Seite:Leo Originalität 12.jpg

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Kunstform des Dialogs, indem sie den griechischen Schulstreit in die Sphäre des geselligen Gesprächs der neuen griechisch-römischen Bildung erhoben. Es ist vielleicht zu Ciceros Nachtheil, wenn man ihn mit Demosthenes, gewiss wenn man ihn mit Plato vergleicht; aber als Nachfolger des Künstlers Plato steht er über allen ändern Nachfolgern die wir kennen, und hoch über der Produktion seines Zeitalters.

Als der andere Gipfel der römischen Litteratur steht Cicero gegenüber, von ihm getrennt durch die Kluft der vollendeten Umwälzung des Staates und der Lebensanschauungen, die Poesie der augusteischen Zeit. Dass diese Poesie dem Kunstverlangen, der ästhetischen Sehnsucht der römischen Welt genug gethan hat, wie den Griechen Homer und Kallimachos, Euripides und Menander, das lässt sich nur zum Theil der vollkommenen Behandlung der Sprache, dem Wohllaut des Verses, dem das vorhandene Gut nach den neuen Wünschen eines neuen Zeitalters klug umprägenden Kunstverstande zuschreiben; ein Volk das die barbarische Welt des Westens civilisirt hat, nicht nur mit seinem Staat und Recht, auch mit seiner Sprache und Litteratur, dessen Poesie hat auch ihren Gehalt aus eigenem Rechte gehabt. Nur nach diesem Eigenen fragen wir heute.

Virgil steht in der Nachfolge Homers genau in dem Sinne wie Goethe es für schön erklärt hat, Homeride zu sein; auch Hermann und Dorothea steht unter der Sonne Homers; nur dass für den antiken Poeten eine dem modernen Verständniss fremde, durch die immer fortzeugende Einwirkung immer neu sich aufdrängende poetische Kleinarbeit mit der künstlerischen Freiheit verbunden war. Wie das ganze griechische Epos von Homer abhängig war, so war für Virgil wie vordem für Ennius dieselbe Abhängigkeit als etwas Natürliches gegeben. Auch seine Aeneis war mythisch-homerisch; aber sie war zugleich national und römisch im neuen Sinne. Der Stammvater Roms und des Augustus war sein Held, die Einkehr der Vorfahren und ihrer Götter auf italischem Boden sein Gegenstand. Dass ein nationaler Stoff diese hellenisirende Behandlung vertrug, lag eben daran, dass die geistige Kultur Italiens griechisch-italisch geworden war. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet steht die Erfindung Virgils dem homerischen Epos mit grösserer Freiheit gegenüber als die nachhomerischen Griechen alle. Die Ausführung, Virgils epische Kunst, erscheint als eine eigene, bewusst durchgeführte Kunst, von Homer und dem hellenistischen Epos gesondert, aus der Zeit und ihrer Sinnesrichtung hervorgewachsen. Der Römer durfte sich sagen, das

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_12.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)