Seite:Leo Originalität 13.jpg

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eigenste Produkt grossen epischen Stils zu besitzen, das nach der Blüthe des alten Epos entstanden war.

Horaz hat seine Formen dem lesbischen Liede nachgebildet und Anklänge an dieses wie an Pindar, Bakchylides, Anakreon finden sich bei ihm; darum ist er nicht Nachahmer eines oder einiger aus diesem Kreise. Er hat sich selbst den neun lyrischen Dichtern der griechischen Vergangenheit angereiht; aber dieser zehnte Lyriker dichtet nicht nur in lateinischer Sprache, sondern als Römer. Es ist das Rom dieser Zeit, mit Augustus in der Mitte, das aus Schrecken und Graus zu neuem Leben und Lebensgenuss erwachte Rom, dessen bewegende Empfindungen und Gedanken hier ihren Ausdruck gefunden haben. Und es ist Horaz, dessen Gefühl und Geist sich ausspricht, eine so ganz auf eigenen Füssen stehende Persönlichkeit, dass die Versuche ihn nachzuahmen zu aller Zeit übel abgelaufen sind.

Wie Virgil und Horaz die klassische Poesie fortsetzen, so Tibull, Properz und Ovid die moderne der hellenistischen Welt; und zwar haben, nach Allem was wir sehen und vermuthen können, Tibull und Properz die elegische Dichtung des Alterthums, Ovid die mythische Erzählung leichteren Stils zu ganz individueller Vollendung geführt. Auch dieser Dichter Stoffe und Motive waren zum grossen Theil von ihren griechischen Vorgängern gefunden; aber doch spiegelt sich in ihrer Dichtung das neue Rom mit seinen Stimmungen und den bunten Farben seiner grossen und kleinen Welt; ihre Dichtung ist bedingt und frei nicht anders als Goethes Elegien, da Properz ihn begeisterte, und seine Epigramme, da sich Martial der Verwegene zu ihm gesellt hatte.

Hiermit mag es genug sein, denn ich will nicht alle Namen nennen und auch nicht viele; wenn es nur deutlich geworden ist, dass die römische Litteratur, sobald sie zu eigenem Rechte anwuchs, nicht die Nachahmerin, sondern die Fortsetzerin der griechischen wurde, mit demselben Anspruch an Mit- und Nachwelt, den die griechischen Dichter erheben, so viele den grossen Begründern der litterarischen Gattungen nachfolgten. Auf mehr als einem Gebiete haben die Römer ihre Vorgänger in Schatten gestellt. Und die Dante und Tasso, die Milton und Pope, die Corneille und Molière und Holberg haben auch aus lebendigen Quellen des Alterthums, nicht aus der Wasserleitung getrunken. –

Es gab eine Zeit, da man in den Kirchen die Bilder übertünchte, die dem Geschmacke des Tages fremd geworden waren und die man in unsern Tagen als Zeugen wahrer Kunst wieder aufgedeckt hat. Alle Wissenschaft hat die Aufgabe, das Dauernde

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_13.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)