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zu erkennen und das Flüchtige und den Schein abzusondern. Auch die historische Wissenschaft, die den Blick in die Vergangenheit senkt, will nur Lebendiges zum Leben erwecken, aber das Todte bei den Todten lassen. Die Gegenwart, in der sich tausend lebendige Kräfte treffen die aus der Vergangenheit in die Zukunft dringen wollen, ist ihr Freund; nur dem Ephemeren ist sie feind, das sich am Lichte der einen Sonne spreizt, die ihm aufgehen sollte.

Wir feiern jetzt von Jahr zu Jahr die Gedächtnisstage der Grossen, die vor einem Jahrhundert als Begründer der neueren deutschen Kultur dahingegangen sind. Damals ist die historische Philologie geboren worden, als ein Kind der geistigen Bewegung, mit der sich das achtzehnte Jahrhundert zum Ende neigte. Ihre ältere Schwester, die Naturwissenschaft, war schon ein Jahrhundert hindurch erstarkt und hatte die europäische Aufklärung von England durch Frankreich nach Deutschland herein begleitet. Hier wuchs, alles Wachsthum der Zeit überragend, die deutsche Dichtung auf, und neben ihr, in der alten Kraft und Fülle des griechischen Gedankens, die neue Philosophie. In wunderbarer Vereinigung ging die schöne Litteratur mit den Wissenschaften, mit der Wissenschaft den Weg hinan.

Solch ein Zusammenklingen aller geistigen Kräfte ist nicht jedem Zeitalter beschieden; am wenigsten dem unsern, das von den Schlagworten einer ästhetischen Kultur oder gar einer technischen Kultur widerhallt. Auch in solchen Zeiten geht die Wissenschaft still und bewusst, erobernd und bewahrend ihres Weges weiter. Sie kann nicht anders als sich unablässig erneuern und ihr Reich erweitern; aber sie kann es nur, indem sie das echte alte Gut hütet und verwaltet, um ihrer selbst willen, um seiner selbst willen, aber auch um der allgemeinen Kultur willen, die im Trug und Rausch des Tages so gern den Boden überflöge, der doch ihr mütterlicher Boden ist.

Die Universität ist mit allen Bewegungen der Zeit verbunden, sie wird durch alle berührt. Möge sie keinem lebendigen Wollen und Werden der Gegenwart fremd bleiben und sorgen, dass vom wahren Leben der Vergangenheit kein Stück verloren gehe.


An diesem Tage tritt die Universität an die Öffentlichkeit, um das Resultat der vor einem Jahre ausgeschriebenen Preisbewerbung zu verkünden. Die Fakultäten stellen die Aufgaben und erteilen die Preise, die Universität verteilt sie. So sind überhaupt die Fakultäten die Organe für die wissenschaftliche Verwaltung

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_14.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)