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Hier ist die peinlichste und häßlichste Vergewaltigung von Strafgefangenen am Werk: Menschen, die sich nicht wehren können, werden gezwungen, sich, wenigstens mit dem Munde, zu einer Weltanschauung zu bekennen, die fast jeder von ihnen in der Freiheit nicht akzeptiert. Selbstverständlich werden Muntau wie seine Kollegen weit von sich weisen, jemals einen Gefangenen zu „zwingen“. Nun, die Bastonade bekommt er nicht. Aber jeder weiß doch, wie ein Beamter zu schikanieren vermag, und wer von den Strafgefangenen dem Anstaltspfarrer nicht bußfertig genug erscheint, gelangt nie zu jenen kleinen Vergünstigungen, die uns andern in der Freiheit so geringfügig erscheinen und die in dem begrenzten Lebensfeld eines Eingesperrten so unendlich wichtig sind.

Das Bekenntnis zur Frömmigkeit wird erpreßt. „Recht erfreulich war die Entwicklung unseres Genesungsheimes ‚Licht nach dem Dunkel‘ in Westercelle bei Celle. Gott hat dort in diesem ersten vollen Wirtschaftsjahr ganz sichtbarlich gesegnet … In mehreren Fällen galt der Aufenthalt in unserm Heim als Bedingung für vorzeitige Strafaussetzung mit Bewährungsfrist.“ Wer also nicht damit einverstanden war, in jenem Heim sichtbarlich für den lieben Gott Mohrrüben zu hacken, der war noch nicht reif für die Bewährungsfrist. Wie groß ist des Allmächtigen Güte!

Und hierzu wie zu den Personen, die diesen Strafvollzug immer noch bestimmen dürfen, ist zu sagen:

Es ist eine Dreistigkeit und eine Unverfrorenheit, in Strafgefangenen Objekte zu religiösen Experimenten zu sehen.

Niemand hat das Recht, einem Rechtsbrecher „zur Vergeltung“ alle Lebensrechte zu nehmen, die sein sind, auch dann noch, wenn er gemordet hat. Die Gesellschaft hat nur das Recht, sich zu sichern – also den Mörder aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Niemals mehr.

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_088.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)