Seite:Lerne lachen ohne zu weinen 231.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Beobachtungsgabe noch keinen Mangel an verecundia zu sehn. Es ist nur ein ärztliches Gutachten – nur: denn das, was aus dieser Figur geworden ist, läßt sich auf solche Weise nicht einfangen. Aber es ist wenigstens ein wertvolles Gutachten, mindestens so visionär wie das Objekt des Referats, und da Panizza kein Gerichtsarzt, sondern ein Kenner gewesen ist, so läßt es sich hören.

Die Legende der Zeugung wird „obszön“ genannt; der Verfasser ist nicht gegen seinen Patienten eingenommen – er liebt ihn, auf seine Weise; es ist da etwas, was er nicht mit seinem Latein auflösen kann, er will es auch gar nicht, und diesen Rest liebt er.

Zunächst der Arzt:

Wir haben hier eines jener psychischen Ur-Phänomene vor uns, wie sie zwar nicht selten sind, aber doch selten in so befruchtender Weise in die Geistesgeschichte von Völkern eingreifen und deren Gemütslage bestimmen. Dieses Identifizieren der eigenen, heftigen und nicht zu bewältigenden Gefühle mit „Gott“, oder irgendeinem hochklingenden Symbol – hier, wenn den Evangelien zu glauben „der liebe Vater im Himmel“ – ist das Urbild eines geistigen Prozesses, die psychische Zwangslage eines nach Gründen suchenden, innerlich heftig bewegten Menschen, der Satz des zureichenden Grundes nach innen gekehrt und anthropomorphisiert, wie wir ihn heute mit fast experimenteller Sicherheit erweisen können.

Der Visionär:

Wie er aber dann das Resultat seines jünglinghaften Empfindens und Denkens, die Frucht jahrelanger Isoliertheit und melancholischer Anwandlungen, die Stimmung einer ganz reinen, von sinnlichen Regungen freien, fast homosexual gearteten, dabei glücklich und heiter veranlagten Seele in seinen lehrhaften Gesängen und Preisungen einer menschenumfassenden, selbstlosen Nächstenliebe aushauchte und ausströmte, das war von einer Innigkeit, Süßigkeit und von einer Neuheit, daß man glaubte, die Nachtigall schlagen zu hören: hier lag der Punkt in seiner Psyche, wo er nicht zu überwältigen war –

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_231.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)