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eius religio“ – so dominiert heute über Städte und Wälder das „Vaterland“, ein lächerlicher Popanz, hinter dem sich ein Schweinekoben voll Gestank, Geilheit, Gemeinheit und Geldgier auftut. Wie eine weiße Stichflamme hat hier die Erkenntnis hindurchzuzischen – Talare sind kein Argument, Revolver sind kein Argument, Fahnen sind kein Argument. Dumpfer Trieb und Gewalt werden ewig da sein; es fragt sich nur, wem sie dienen. Worauf zu antworten: sie dienen gar nicht. Sie herrschen und machen sich eine Metaphysik zurecht, wie sie sie brauchen.

Aus diesem Sumpf leuchtet wie eine Sonne die Reinheit des ersten christlichen Empörers, aus dem sie auch einen Superintendenten und einen Kardinal gemacht haben, und wohl nur aus Zufall nicht einen Feldrabbiner.

Er war rein – er war mehr als das. Er hatte Charakter. Er hätte sich retten können – er hat es nicht getan.

Die Evangelienschreiber haben den Prozeß der Legendisierung an diesem wunderbaren Anarchisten bis zur Übersüßung und Rührseligkeit vollzogen. Und das meiste an diesem herrlichen Charakterbild ist verschwommen und unsicher. Aber eines scheint sicher zu sein: Das allmähliche und ruhige Aufwachsen und Keimen des eigentümlichen Ideengehalts bei ihm, das echt paranoische, primär durch die Vererbung gegebene und dann mit konsequenter Sicherheit bis zur Felsenhärte fortschreitende Anwachsen jener Ideen, jenes Wahns, jenes geistigen Fixums, das sich die Welt unterwerfen wird – und dann das Nunquam retrorsum! das Niemals zurück! auf dem einmal eingeschlagenen Pfade geistiger Entwicklung, das Aushalten bis zum letzten Moment … „Du sagst es!“ –

Und dies muß ihm selbst der Atheist, der Psychologe lassen. Daß er in Jerusalem vor dieser erbärmlichen Sorte von Advokaten, Winkelschreibern, Polizisten, Staatsbeamten, Doktoren, Geheimspitzeln und Bureaukraten, von denen jeder auf einen Wink des Kaisers für eine Gunstbezeugung, einen Orden, eine Gehaltserhöhung, alles, aber auch alles getan hätte, nicht zurückhufte, keine Konzessionen machte, nie um Gnade bat, sondern als einzige

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_235.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)