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Die Vulgärkatholiken pflegen zu schimpfen, wenn sich unsereiner mit ihnen befaßt, und sie schimpfen nicht einmal herzerquickend, sondern recht unbegabt. Die bessern unter den Frommen pflegen zu jammern: „Sie verstehen den Katholizismus nicht. Begreifen Sie nicht, daß von unserm Standpunkt aus …“ Von den leicht in Hysterie übergegangenen Damen, bei denen Religiosität und zarte Gefühle enger zusammenliegen als nötig, sei hier nicht gesprochen. Was ist das für eine Encyklika, und was ist das für ein Standpunkt?

Die Encyklika über die Ehe wirkt auf einen Not Leidenden, der nicht im Katholizismus aufgewachsen ist, wie frecher Hohn. Sie ist es nicht, sie wirkt aber so. Der groteske Grundsatz: „Lieber elf Kinder auf dem Kissen, als eines auf dem Gewissen“ kann gewiß nicht mit dem Scherz: „Und wie halten es Eure Heiligkeit damit?“ beantwortet werden; was aber ein Arbeiter in der Großstadt mit diesen Sittengesetzen anfangen soll, ist ganz und gar unbegreiflich. Schließlich gibt es ja einen Tiefstand der Lebenshaltung, wo alle moralischen Leitsätze einfach untergehn. Wer arbeitslos ist, von der Tuberkulose bedroht, verbittert, hungrig, in Asylen dahinlebt: der hat wenig Lust, sich mit dem Himmel zu trösten, mit dem ihm hier auch noch gedroht wird. In einem Zimmer, in dem Mann, Frau, sechs Kinder und ein Schlafbursche liegen, wird das Sakrament der Ehe reichlich fadenscheinig.

Man rühmt an der Kirche die Folgerichtigkeit ihres Denkens, ihre Logik und die gut gemauerte Basis des großen Gebäudes. Sicherlich, es ist imposant – aber wenn man in den Keller geht und sich einmal die Fundamente ansieht …

Man muß die Anfänge des Katholizismus kennen, um ihn ganz zu verstehn. Da wäre zum Beispiel Tertullian. Damals bauten sie noch an den Fundamenten; man kann den Plan

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_237.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)