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Walther Kabel: Leuchtturmtragödien ( Illustrierter Deutscher Flotten-Kalender, 16. Jahrgang)

jüngste der Wärter namens Graaling, von Durst und Hunger gepeinigt, das Branntweinfäßchen heimlich geöffnet, war dann im Rausche die steile Turmtreppe hinabgefallen und mit gebrochenem Genick unten liegen geblieben. Seine beiden Kameraden hüllten die Leiche in geteerte Leinwand und legten sie in einen Verschlag im unteren Stockwerk. Durch die Anwesenheit des Toten in dem engen Steinbau wurde die Lage der Überlebenden noch entsetzlicher. Ihre durch die Qualen des Hungers ohnehin geschwächten Nerven konnten den Gedanken, mit einer Leiche fast Wand an Wand hausen zu müssen, kaum noch ertragen. In ihrer abergläubischen Furcht vernagelten sie die Treppentür und hielten sich nur noch in dem obersten Stockwerk auf, einem Raum von kaum acht Quadratmeter Bodenfläche. Die meiste Zeit verbrachten sie draußen auf der Galerie, die um den Turm herumlief. Als der Lotsenkutter sich zum ersten Male ihrem steinernen Gefängnis näherte, hatten sie bereits das in Öl aufgeweichte Leder ihrer Stiefel zu verzehren begonnen. Verzweifelt sahen sie das Boot nach dem vergeblichen Kampf gegen die Wogen umkehren. Drei Tage später erschien der Kutter aufs neue. Hoffnung erfüllte die Brust der beiden halbverhungerten Männer, die kaum noch die Kraft hatten, sich auf die Galerie hinauszuschleppen. Der Kutter versank. Auch diese Hoffnung war dahin. Am 5. November zeigten sich bei Kelling, dem Manne, der die Lampen in Ordnung zu halten hatte, die ersten Anzeichen des beginnenden Wahnsinns. Bis dahin hatte das Feuer des Turmes nachts noch regelmäßig seinen Lichtkegel in die Finsternis hinausgeworfen. Jetzt erlosch es. Kelling hatte den Mechanismus und die Lampen selbst mit einem Hammer in wilder Wut zertrümmert. Am Tage darauf machte der vom Irrsinn ergriffene dem Oberwärter den Vorschlag, von der Galerie gemeinsam in die See hinabzuspringen, um so schnelle Erlösung von all den Qualen zu finden. Vjelmeling gelang es, dem Irren dies auszureden. Inzwischen war die Leiche Graalings in Verwesung übergegangen, und der Leichengeruch drang immer stärker in das obere Stockwerk hinauf.

Als die beiden Männer ihre Stiefel verzehrt hatten, begannen sie, ihre Ölanzüge in kleine Stücke zu zerschneiden, die sie, in Öl getaucht, hinunterwürgten. Sie vermochten sich nur noch auf allen vieren fortzubewegen. Zum Glück brachte ihnen ein wolkenbruchartiger Regen wenigstens etwas trinkbare Flüssigkeit. Am 7. November kam der Wahnsinn bei Kelling vollständig zum Ausbruch. Der Irrsinnige überfiel seinen Kameraden und suchte ihn mit einem großen eisernen Schraubenzieher niederschlagen. Vjelmeling, nicht mehr fähig, sich anders zu wehren, ergriff ein geladenes Gewehr und streckte den Angreifer mit einem Schuß nieder. Die Kugel war Kelling mitten durch die Brust gegangen. Mühsam schleppte er den Körper des Toten auf die Galerie hinaus und stürzte ihn in die See.

Bis hierher reichten Vjelmelings kurze, zuletzt mit zitternder Hand geschriebene Aufzeichnungen. Endlich, am 18. November, gelang es einem Lotsendampfer, mit Hilfe eines langen Taues zwei Leute bis an den Leuchtturm heranzubringen. Diese Männer kehrten von Grauen geschüttelt aus dem von Leichengeruch verpesteten Turme an Bord des Dampfers zurück und meldeten, daß sie Vjelmeling tot neben dem Leuchtapparat und Graalings schon stark in Verwesung übergegangene

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Leuchtturmtragödien ( Illustrierter Deutscher Flotten-Kalender für 1916, 16. Jahrgang). Wilhelm Köhler, Minden 1915, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leuchtturmtrag%C3%B6dien.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)