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Walther Kabel: Leuchtturmtragödien ( Illustrierter Deutscher Flotten-Kalender, 16. Jahrgang)

Leiche in der Gerätekammer aufgefunden hätten. Erst vier Tage später, als die See sich vollständig beruhigt hatte, konnte man daran denken, die beiden Toten aus dem Turme herauszuholen und nach Harlingen zu schaffen. Dabei entdeckte man auch des Oberwärters Tagebuch, das in kurzen Worten das schreckliche Drama enthüllte, bessert Schauplatz der Leuchtturm von Vlieland geworden war. –

Im Jahre 1872 hatte die mexikanische Regierung durch eine New Yorker Baufirma auf der Spitze der dem Golfe von Tehuantepec vorgelagerten Halbinsel einen zwanzig Meter hohen Leuchtturm in Eisenkonstruktion errichten lassen. Die Verankerung des Turmes machte wegen des felsigen Bodens viele Schwierigkeiten, gelang schließlich aber doch. Zu der Kommission, die das fertige Bauwerk abnehmen sollte, gehörte der in die Dienste Mexikos übergetretene deutsche Ingenieur Rennhagen. Dieser erklärte nach sorgfältiger Prüfung, der in den Fels eingelassenen eisernen Grundpfeiler, daß die Verankerung nicht wie in dem Projekt vorgesehen, fünf Meter, sondern höchstens nur zweieinhalb Meter Tiefe besitze. Dieses unsoliden Unterbaues wegen liege die Befürchtung nahe, daß der Turm bei heftigem Seegang dem Anprall der Wogen nicht genügenden Widerstand leisten könne. Man beachtete diese Warnung jedoch nicht und setzte den Leuchtturm am 2. November 1872 in Betrieb. Die Besatzung bestand aus vier Männern, die sich vorläufig auf ein Jahr als Wärter verpflichtetet hatten. Eine Ablösung nach zwei bis vier Monaten, wie sie sonst bei der Besatzung von Leuchttürmen üblich ist, wurde nicht vorgesehen. Allerdings hatten die vier Männer auch insofern größere Bewegungsfreiheit, als der Turm während der Ebbe völlig auf trockenem Lande lag und den Leuten so die Möglichkeit gegeben war, wenigstens einige Stunden des Tages im Freien zuzubringen.

Fünf Monate gingen hin, ohne daß auf dem Leuchtturm von Tehuantepec etwas Auffallendes vorkam. Das einzige, worüber sich die Besatzung beklagte, war das Schwanken des Turmes, das sich besonders bei anhaltendem Sturm höchst unangenehm bemerkbar machen sollte, wie ein Bericht der Besatzung besagte. Die zuständige Behörde legte dieser Erscheinung, die in gewissem Grade bei allen freistehenden schlanken Bauwerken zu beobachten ist, keinerlei Bedeutung bei.

Dann trat am 14. März 1873 jene Katastrophe ein, die damals in der ganzen zivilisierten Welt ebenso großes Aufsehen wie tiefgehende Entrüstung hervorrief. Am Morgen jenes Tages tobte aus Nordost ein furchtbarer Orkan, der bis zum Mittag anhielt und von einer völligen Windstille abgelöst wurde. Um 1 Uhr mittags passierte der Hamburger Dreimaster „Konsul Hennings“ den Leuchtturm und ging in die offene, noch starkbewegte See hinaus. Eine halbe Stunde später bemerkten die Leuchtturmwärter, daß der Segler wendete und mit aller Kraft der Einfahrt des Golfes wieder zustrebte. Inzwischen war neuer Wind aus gerade entgegengesetzter Richtung, aus Südwest, aufgekommen, der sich bald zum Sturm verstärkte. Der Dreimaster ging in einer geschützten Bucht innerhalb des Golfes etwa eine Meile von dem Leuchtturm entfernt vor Anker, reffte alle Segel und wartete die durch das plötzliche Umspringen des Windes notwendig bedingte Sturmflut ab.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Leuchtturmtragödien ( Illustrierter Deutscher Flotten-Kalender für 1916, 16. Jahrgang). Wilhelm Köhler, Minden 1915, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leuchtturmtrag%C3%B6dien.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)