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Bereits im Jahre 1789 erscheint in ukrainischer Sprache eine meisterhaft geschriebene Travestie der Virgilschen Äneis von Kotlarewskyj, des ersten modernen Schriftstellers der wiedererwachten Ukraine, dem bald viele andere nachfolgten. Marko Wowczok, Hulak-Artemowskyj, Kwitka-Osnowjanenko und Gogol-Vater schöpften mit vollen Händen aus dem reichen Schatze der ukrainischen Volkspoesie und dem ukrainischen Volksleben und begründeten die moderne ukrainische Literatur, die sich durch ihre Eigenartigkeit und den wahrhaft volkstümlichen Zug, der ihr zugrunde liegt, an die Literaturen anderer slawischer Völker würdig anschließt. Die Novellisten, wie Iwan Franko, Olga Kobylanska, der durchaus moderne und hochbegabte Kociubynskyj Winnitschenko und Jazkiw von der jüngeren Generation, der Dramaturg Karpenko-Karyj, die Lyriker, wie der bereits erwähnte Iwan Franko, Olena Kosacz (Pczilka) Olesj, u. v. a. könnten in jeder Literatur europäischer Kulturvölker ihren gebührenden Platz finden. Über alle ragt aber die hohe Gestalt des Taras Schewtschenko, des Dichters von Gottes Gnaden, welcher in seinen politischen Dichtungen die Feinde der Ukraine unbarmherzig geißelte und durch seine Darstellungen der ukrainischen Vergangenheit aus der Zeit der kosakischen Befreiungskämpfe mit all ihren Heroengestalten, im wunderschönen Gewande ukrainischer Volkspoesie, als wahrer Prophet seines Volkes auftrat. Der Tyrtäus der ukrainischen Nation, der ihr die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit prophezeite, mußte seine Dichtungen, die bald von Hand zu Hand gingen, mit jahrelanger Verbannung büßen, in der ihm jede schriftstellerische Tätigkeit von der russischen Regierung untersagt wurde …

Der berüchtigte zarische Ukas vom Jahre 1876 hat in die kulturell-nationale Entwicklung des ukrainischen Volkes in Rußland auf einige Zeit Bresche geschlagen – in Galizien, das sich bald in ein Piemont des ukrainischen Gedankens und

Empfohlene Zitierweise:
Eugen Lewicky: Die Ukraine der Lebensnerv Rußlands (= Ernst Jäckh (Hg.): Der Deutsche Krieg, 33). Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart u. Berlin 1915, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lewicky_Die_Ukraine_1915.pdf/26&oldid=- (Version vom 24.2.2022)