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Georg Christoph Lichtenberg: I. Allerlei Gedanken: Die Natur. In: Ausgewählte Schriften, S. 3–11

Jetzt, da ich dieses schreibe (im Anfang des August 1794), zeigen sich bei uns, so wie an mehreren Orten, Spuren der Ruhr. Es sollen, wie man sagt, schon sechs Menschen daran gestorben sein; das wären also schon gerade noch einmal so viel in wenigen Tagen, als der Blitz Menschen in unsrer Stadt in mehr als einem halben Jahrhundert getötet hat; und wie viele Menschen mag die Ruhr wohl in diesem halben Jahrhundert getötet haben? Und doch ist man dabei sehr ruhig. Ich sehe sogar, daß man nicht einmal für die wohlfeilsten Ruhrableiter sorgt. Man geht noch immer in den dünnsten Westchen einher, obgleich der Wind schon über die Stoppeln weht; ja ich habe bemerkt, daß man noch vor wenigen Tagen hie und da bei offenen Fenstern schlief, die man bei Gewittern sehr sorgfältig verschloß; und doch hat man kein Beispiel, daß der Blitz je zu einem offenen Fenster hineingefahren wäre, da hingegen die Ruhr gar leicht in die Schlafkammern schlägt, wenn sie ein offenes Fenster findet, zumal, wenn sie unversehens, nach einem heißen Tage, mit einem kühlen Regen und einem feuchten Lüftchen ankommt. – Ist das nicht sonderbar? Wie würden sich wohl die Menschen in diesen Tagen verhalten, wenn die Ruhr, wie ein dickes, schwarzes Gewölk, oder gar wie ein dunkelgrünes, dergleichen Donnerwetter einmal jemand gesehen haben wollte, am Horizont herauf, niedrig und langsam angezogen käme, die Spitzen der Bäume berührte, den Tag in Dämmerung verwandelte, und nun das bestimmte Schlachtopfer jedesmal mit einem Donnerschlag befiele, der die Häuser beben mache? Blitzen sollte es nicht dabei, doch um den Schlag anzukündigen, müßte etwa die Dämmerung einige Sekunden vor demselben noch um einige Tintenstufen schwärzer werden. Ich glaube, des Singens und Betens würde kein Ende sein. Ja ich fürchte, selbst mancher Weise (sapiens) möchte sich von einem solchen Himmel etwas mehr als bloß decken lassen. Daß dabei die tödlichen Schläge sich noch besonders auszeichnen müßten, versteht sich. Wie da? Und doch schwebt jetzt ein solches Wetter über unsern Häuptern, nur ohne Donnerschläge und schwarzgrüne Wolken, die überhaupt gerade die Nebensache bei dem Handel wären, und wir setzen unsre Geschäfte ruhig fort. Nun bedenke man noch die Fieber-, Pocken- und Schlagflußwetter, die immer umherziehen und einschlagen. – – Doch wir überlassen diese Betrachtungen dem Leser, aus Furcht, durch weiteres Ausmalen die Gattungen der Donnerwetter für manche Menschen zu vermehren, für die schon eine einzige zu viel ist.

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Empfohlene Zitierweise:
Georg Christoph Lichtenberg: I. Allerlei Gedanken: Die Natur. In: Ausgewählte Schriften, S. 3–11. Cotta, Stuttgart 1893, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lichtenberg_Die_Natur.pdf/6&oldid=- (Version vom 29.8.2023)