Seite:Loehr Buch der Maehrchen 2.pdf/337

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Nachbarschaft, die sie speisete und beschenkte, und hier lustwandelte sie am liebsten, wenn ihr die alte Burg in des Hausherrn Abwesenheit zu öde und dumpf und enge wurde.

Einsmals blieb ihr Gemahl sehr lange aus und es wurde ihr, o wie so bange, es möchte ihm ein Unglück begegnet sein. Wie oft fragte sie den Zwerg, der Wacht auf der Thurmwarte hielt: „Kleinhänsel, erschauest du nichts? Kleinhänsel, hörst du nichts trappeln?“ Aber Kleinhänsel sagte immer traurig: „Nichts! nichts!“ – Dann trieb sie oftmals die Angst an den krystallhellen Brunnen, wo sie sich hinsetzte und zum Himmel aufsahe und weinte und seufzte.

So saß sie auch einst unfern vom Brunnen, da kam es ihr vor, als ob ein leichter Schatten den Rand deßelben umschwebte, doch achtete sie in ihrer Betrübniß nicht drauf. Aber sie sahe gar bald, daß wirklich eine Gestalt da war. Die hielt sie für die Nixe der Quelle, und das war sie denn auch.

Die Nixe hatte ein holdes mildes Angesicht und winkte ihr mit der Hand. Da wollte sie verzagen, nicht aus Grauen vor der Nixe, sondern weil sie glaubte, ihre Erscheinung zeige den Tod des Gemahls an, denn es hieß seit undenklicher Zeit, wenn die Nixe erscheine, bedeute es ein großes Unglück. Aber die Nixe kam, faßte sie freundlich bei der Hand, küßte ihre Stirn[WS 1] und führte sie in die Grotte, aus welcher die Quelle hervorsprudelte, und sagte: „Sei ruhig, du theures Weib; dein Gemahl ist geborgen und ist bei dir, ehe die Morgenröthe zum zweitenmal leuchtet. Ich aber liebe dich lange, weil dein Herz so rein ist, wie das Waßer meines Brunnens. Ich habe nicht Macht für Dich und die Deinen gar viel zu thun; ich will dir aber offenbaren, daß du deinen Gemahl nicht wirst betrauern. Aber einer holden Tochter, die du noch gebären wirst, stehen seltsame Dinge bevor, und du wirst sie nicht lange pflegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sirn