phantasie bildet nicht räume, sondern mauerkörper. Was die mauerkörper übrig lassen, sind dann die räume. Und für diese räume wird nachträglich die bekleidungsart gewählt, die dem architekten passend erscheint.
Der künstler aber, der architekt, fühlt zuerst die wirkung, die er hervorzubringen gedenkt, und sieht dann mit seinem geistigen auge die räume, die er schaffen will. Die wirkung, die er auf den beschauer ausüben will, sei es nun angst oder schrecken, wie beim kerker; gottesfurcht, wie bei der kirche; ehrfurcht vor der staatsgewalt, wie beim regierungspalast; pietät, wie beim grabmal; heimgefühl, wie beim wohnhause; fröhlichkeit, wie in der trinkstube – diese wirkung wird hervorgerufen durch das material und durch die form.
Ein jedes material hat seine eigene formensprache, und keines kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen. Denn die formen haben sich aus der verwendbarkeit und herstellungsweise eines jeden materials gebildet, sie sind mit dem material und durch das material geworden. Kein material gestattet einen eingriff in seinen formenkreis. Wer einen solchen eingriff dennoch wagt, den brandmarkt die welt als fälscher. Die kunst hat aber mit fälschung, mit lüge nichts zu tun. Ihre wege sind zwar dornenvoll, aber rein.
Den Stefansturm kann man wohl in zement gießen und irgendwo aufstellen – er ist aber dann kein Kunstwerk. Und was vom Stefansturm gilt, gilt auch vom palazzo Pitti, und was vom palazzo Pitti gilt, gilt auch vom palazzo Farnese. Und mit diesem bauwerke wären wir mitten drin in unserer ringstraßenarchitektur. Eine traurige zeit für die kunst, eine traurige zeit für die wenigen künstler unter den damaligen architekten, die gezwungen
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/105&oldid=- (Version vom 1.8.2018)