1899 der münchner „Dekorativen Kunst“ zeigen, in welcher zeitschrift dieser innenraum – ich glaube, er gelangte durch ein versehen der redaktion hinein – reproduziert wurde. Aber diese beiden photographischen reproduktionen waren es nicht, die damals den einfluß ausmachten – sie blieben vollständig unbeachtet. Nur die kraft des beispieles hat einfluß gehabt. Jene kraft, mit der auch die alten meister gewirkt haben, schneller und rascher bis in die entferntesten erdenwinkel, obgleich oder vielmehr weil es noch keine post, keine telegraphen und zeitungen gab.
Die zweite hälfte des neunzehnten jahrhunderts war erfüllt von dem ruf der kulturlosen: Wir haben keinen baustil! Wie falsch, wie unrichtig! Gerade diese zeit hatte einen stärker akzentuierten, einen stärker von jeder früheren periode unterscheidbaren stil als je eine zuvor; es war ein wechsel, der in der kulturgeschichte ohne beispiel dasteht. Da aber die falschen propheten ein produkt nur an dem verschieden gearteten ornament erkennen konnten, wurde ihnen das ornament zum fetisch, sie unterschoben diesen wechselbalg, indem sie ihn stil nannten. Wahren stil hatten wir schon, aber wir hatten kein ornament. Wenn ich sämtliche ornamente unserer alten und neuen häuser herunterschlagen könnte, daß nur die nackten mauern zurückblieben, wäre es allerdings schwer, das haus des fünfzehnten jahrhunderts vom hause des siebzehnten jahrhunderts zu unterscheiden. Aber die häuser des neunzehnten jahrhunderts fände jeder laie auf den ersten blick heraus. Wir hatten kein ornament, und sie jammerten, daß wir keinen stil hätten. Und sie kopierten solange vergangene ornamente, bis sie es selbst lächerlich fanden, und als das nicht mehr weiter ging, erfanden sie
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/312&oldid=- (Version vom 1.8.2018)