die oberfläche und ihre sorgsam verborgene tradition kam zum vorschein und ihr haß gegen ihre bedrücker machte sich luft. Und ich fand die moderne wandverkleidung in den paneelen, die den wasserkasten des alten waterclosets verbergen, ich fand die moderne ecklösung bei den kassetten, in denen die silberbestecke aufbewahrt wurden, ich fand schloß und beschläge beim koffer- und klaviermacher. Und ich fand das wichtigste: daß der stil vom jahre 1900 sich vom stile des jahres 1800 nur so weit unterscheidet, als sich der frack vom jahre 1900 vom frack des jahres 1800 unterscheidet.
Das ist nicht viel. Der eine war aus blauem tuch und hatte goldene knöpfe, der andere ist aus schwarzem und hat schwarze knöpfe. Der schwarze frack ist im stile unserer zeit. Das kann niemand leugnen. Die verbogenen waren in ihrem hochmut an der reformierung unserer kleidung vorbeigegangen. Sie waren nämlich alle ernste männer, die es unter ihrer würde fanden, sich mit solchen dingen abzugeben. Und so blieb unsere kleidung im stile ihrer zeit. Dem würdigen ernsten manne ziemte nur das erfinden von ornamenten.
Als mir nun endlich die aufgabe zuteil wurde, ein haus zu bauen, sagte ich mir: Ein haus kann sich in der äußeren erscheinung höchstens wie der frack verändert haben. Also nicht viel. Und ich sah, wie die alten bauten, und sah, wie sie sich von jahrhundert zu jahrhundert, von jahr zu jahr vom ornamente emanzipierten. Ich mußte daher dort anknüpfen, wo die kette der entwicklung zerrissen wurde. Eines wußte ich: ich mußte, um in der linie der entwicklung zu bleiben, noch bedeutend einfacher werden. Die goldenen knöpfe mußte ich durch schwarze ersetzen. Unauffällig muß das haus aussehen.
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/314&oldid=- (Version vom 1.8.2018)