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GLAS UND TON
(26. juni 1898)


„Man zeige die töpfe, die ein volk hervorbrachte und es läßt sich im allgemeinen sagen, welcher art es war und auf welcher stufe der bildung es sich befand“ sagt Semper in der vorrede zu seiner „keramik“.*)[1] Nicht nur den töpfen wohnt diese offenbarungskraft inne, möchte man hinzufügen. Jeder gebrauchsgegenstand kann uns von den sitten, dem charakter eines volkes erzählen. Aber die produkte der keramik besitzen diese eigenschaft am sinnfälligsten.

Semper gibt uns gleich ein beispiel. Er bildet das gefäß ab, mit dem in Ägypten, und das, mit dem in Hellas das wasser von den frauen ins haus gebracht wurde. Das erstere ist der nileimer, die situla, ein gefäß, beiläufig jenen kupferkesseln ähnlich, mit dem die venetianer ihr wasser schöpfen. Es gleicht einem oben abgeschnittenen riesenkürbis, hat keinen fuß und einen henkel wie ein feuereimer. Die ganze gestaltung des landes, seine topographie, seine hydrographie kann uns dieser schöpfeimer offenbaren. Wir wissen sofort: das volk, das sich dieses gefäßes bedient, muß in der tiefebene, an den ufern eines trägen flusses leben. Wie sehr unterscheidet sich aber davon das griechische gefäß! Semper sagt über dieses: „… die hydria, deren bestimmung darin besteht, das wasser nicht zu schöpfen, sondern es, wie es vom brunnen fließt, aufzufangen. Daher die trichterform des halses und die kesselform des rumpfes, dessen schwerkraftmittelpunkt hier der mündung möglichst nahe gelegt

  1. *) Gottfried Semper: der stil, zweiter band, München 1879, Seite 3 Internet Archive
Empfohlene Zitierweise:
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/54&oldid=- (Version vom 1.8.2018)