Seite:Lucians Werke 0516.jpg

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da weiß, wie wahr das Wort des Arztes aus Cos[1] ist: „das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.“ Und doch sagte Hippokrates dieß nur von der Arzneikunst, welche noch leicht genug zu erlernen ist im Vergleich mit der Philosophie, einer Wissenschaft, in deren Besitz man sich auch in noch so langer Zeit nicht setzen kann, wenn man nicht seinen Blick unverrückt und mit gespanntester Aufmerksamkeit auf sie geheftet hält. Und um was es sich handelt, ist in der That keine Kleinigkeit: entweder in der großen Fluth gemeiner, unwissender Menschen elendiglich unterzugehen, oder im Umgange mit der Weisheit des höchsten Glückes zu genießen.

2. Lycinus. Wahrhaftig, ein schöner, herrlicher Preis, mein lieber Hermotimus! Und, so viel ich aus der langen Zeit, die du schon philosophirest, und aus der anhaltenden Mühe vermuthe, mit welcher du, wie ich sehe, dein Studium betreibst, so kannst du von diesem Ziele so ferne nicht seyn. Denn wenn ich mich recht erinnere, so sind es nun zwanzig Jahre her; während welcher ich dich nie zu Gesichte bekam, ohne daß du entweder auf dem Wege zu deinen Philosophen gewesen wärest, oder über einem Buche gesessen, oder die nachgeschriebenen Lehrvorträge wieder abgeschrieben hättest. Dabei siehst du vor lauter Studiren so blaß und abgezehrt aus, daß ich glauben muß, du gönnest dir nicht einmal die Ruhe des Schlafs. Unter diesen Umständen sollte es doch wohl nicht mehr lange anstehen, bis du jenes höchste Glück erreichst – oder bist du wohl gar, ohne daß wir’s merken, schon im Besitz desselben?


  1. Insel im icarischen Meer in der Nähe Kleinasiens.
Empfohlene Zitierweise:
Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_0516.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)