Seite:Lucians Werke 0589.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ich höre glänzende Versprechungen von einem wunderbaren Glück, dessen diejenigen genießen, welche den Gipfel erreicht haben: nur diese sind, sagt man, im Besitze des Inbegriffs aller wahren Güter. Nun fragt sich, lieber Freund: hast du jemals (du mußt das doch wohl am besten wissen) einen solchen Stoiker, der den Gipfel des Stoicismus erschwungen, kennen gelernt, einen Mann also, der sich nie betrüben, und nie von Sinnlichkeit hingerissen werden kann, und über Neid, Zorn, Geldliebe erhaben, und so vollkommen selig ist, wie das Musterbild seyn muß, dessen Leben als die Norm eines in Tugendübung hingebrachten Lebens gelten soll? Fehlte ihm auch nur das Mindeste zu dieser Vollkommenheit, so wäre er bei allen übrigen hohen Vorzügen doch mangelhaft; denn wenn er nicht vollkommen ist, so ist er auch nicht selig.

Hermotimus. Ich gestehe es, einen solchen Stoiker fand ich noch nicht.

76. Lycinus. Schön, guter Hermotimus, daß du das so ehrlich bekennest. In welcher Aussicht also betreibst du dieses Studium, wenn du siehest, daß weder dein Lehrer, noch der Lehrer deines Lehrers, noch dessen Vorgänger, noch, wenn du auch bis in’s zehente Glied hinaufsteigen wolltest, irgend einer dieser Schule ein ganz vollkommener Weiser und dadurch glückselig geworden ist? Denn du würdest wohl sehr unrecht haben, wenn du sagen wolltest, daß es dir genüge, auch nur in die Nähe jener göttlichen Seligkeit zu kommen: glaube mir, dieß würde dir so viel als nichts helfen. Man ist außerhalb der Schwelle und im Freien, und mag nun nahe vor der Thüre oder weit von ihr weg stehen, nur vielleicht

Empfohlene Zitierweise:
Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_0589.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)