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Dort hat vor Zeiten ein großes Dorf gestanden, dessen Urkunden vom Jahre 914 schon unter dem Namen Gartilar gedenken, und das schon im 14. Jahrhundert zur Wüstung geworden ist. Auf welche Weise dieß geschehen, weiß niemand zu sagen. Die Sage aber spricht: Das Dorf ist noch vorhanden, man sieht es nur nicht. Ein Reisender, der an einem Sonntage durch jene Gemarkungen schritt, sah vor sich ein schönes Dorf liegen, und vernahm das erste Geläute der Kirchenglocken. Als er das Dorf betrat, sah er auch die Kirchengänger zahlreich aus ihren Häusern treten und der Kirche zuschreiten, ihre Tracht aber war auffällig alt. Der Reisende grüßte einige der Kirchengänger, und fragte sie, wie ihres Dorfes Name sei? Aber keiner dankte dem Gruß, keiner sprach ein Wort, und aller Augen waren starr und glanzlos, und ihre Gesichter todtenbleich. Da grausete es dem Reisenden, und von einem unaussprechlichem Schauer gepackt, enteilte er dem unheimlichen Dorfe.

Gar wundersames kündet die Sage von Glockenschlage der Mitternachtstunde im verschwundenen Dorfe Gertles. Wer den Muth hat, diesen zu hören, kann zu großem Glück gelangen. Aber er muß dem Schall in jeder der heiligen 12 Nächte lauschen, in der mythischen Zeit vom 1. Weihnachtstage an bis zum h. Dreikönigestage. Ein Bauer aus Marisfeld hatte diesen Muth. Jede Nacht in den Zwölften ging er auf das verrufene Feld hinaus, hörte nichts, sah nichts – plötzlich in einer der Nächte schlug dicht in seiner Nähe ein so furchtbar dröhnender Glockenschall an sein Ohr, als ob er unmittelbar unter der großen Erfurter Domglocke stehe, und ehe der vierte Schlag erfolgte, hatten ihn Schreck und Grausen schon zu

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)