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bekam, von welchem er erst spät zurückkehrte. Nach eingetretenem Feierabend machte sich demnach der Geselle allein auf den Weg, und begab sich unter den alten Birnbaum, wo er an der wohlgemerkten Stelle einschlug. Bald gelangte er auf die vergrabene Schachtel, zog sie heraus und lüftete den Deckel, um nachzusehen, welche Schätze darin verborgen seien. In der Schachtel aber lag ein lebendiges Geschöpf, etwa eine halbe Elle lang, von menschlicher Gestalt, aber mit kohlenschwarzem Gesicht, Bockshörnern und Pferdefüßen; das stierte ihn mit großen funkensprühenden Feueraugen an, sprang mit einem ungeheuern Satz aus der Schachtel heraus, und hüpfte mit mehr als mannshohen Sätzen einigemal um den erschrockenen Gesellen herum, dann aber mit widerlichem Freudengeschrei über Bäume, Hecken und Zäune fort nach dem See zu, auf und davon.

Entsetzt ließ der Geselle die Schachtel fallen, und rannte nach Hause. Todtenbleich und sterbenskrank kam er daselbst an. Kaum konnte er mit lallender Zunge erzählen, was ihm begegnet war. Ein Nervenfieber packte ihn, und nach wenigen Tagen war er tod. In der Fieberhitze phantasirte er beständig von der Däumlingsgestalt; dann sträubte sich das Haar ihm einpor, die Augen traten ihm vor den Kopf, der Angstschweiß vor die Stirne, und krampfhaft stöhnte der Arme: schafft mir den schwarzen Teufel fort; er will mich umbringen.

Die Schachtel und das Loch fand man unter dem alten Birnbaume. Den Däumling aber hat niemand wieder gesehen, und eben so wenig hat man erfahren können, wer die Frau gewesen, welche die Schachtel unter dem Birnbaum vergraben hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/99&oldid=- (Version vom 1.8.2018)