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Die wilde Marinka

Vor vielen Jahren lebte ein Graf, Udo von Wolfenstein, der ein gar schönes Töchterlein hatte. Marinka hieß das Mägdlein, das das einzige Kind des Grafen war.

Weil Marinka keine Brüder besaß, ihre Mutter ihr aber viel freien Willen ließ, so lernte sie schon früh, mit ihrem Vater hinauszureiten in Wald und Feld, was ihr größtes Vergnügen war. Ebenso verstand sie bald mit der Armbrust zu schießen wie ein Bube, und kaum erwachsen, übte sie mit ihrem Vater das Waidwerk aus und ritt mit ihm zur Reiherbeize.

Die Gräfin sah dies alles zwar nicht gern, da sie fürchtete, solche mehr den Männern obliegende Tätigkeit würde sich für eine Jungfrau nicht geziemen und deren Sittsamkeit beeinträchtigen, doch Marinka wußte durch Schmeicheln und Bitten, oder gar durch eigenwilligen Trotz immer mehr ihren Willen durchzusetzen, je größer sie wurde.

Zu spät sah die Gräfin ein, daß sie früher zu nachsichtig gegen die Tochter gewesen war, und selbst der Graf wünschte öfter, Marinka möchte nun als erwachsene Jungfrau mehr Geschmack an weiblicher Tätigkeit finden.

Nähen, Spinnen und feine Stickereien, wie auch die sonstigen Pflichten und Beschäftigungen einer vornehmen Dame damaliger Zeit waren Marinka ein Greuel; sie blieb darum auch ungeschickt darin. Wollte man sie zu solchen Arbeiten zwingen, so warf sie bald das Spinnrad um oder zerriß die Fäden, sprang ungeduldig auf und rief eigensinnig:

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_048.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)