Seite:Märchen (Montzheimer) 094.jpg

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Der Gesang im Turm ließ sich nur noch gedämpft vernehmen. Immos Herz war von großem Mitleid für die armen Opfer des Zauberers erfüllt, denn er ward nun auch auf die zahlreichen Falken, die in den Mauernischen saßen oder das Schloß umschwirrten, aufmerksam. Er wagte es jedoch nicht, des Springmännleins Gebot zu übertreten, hoffte auch, sein Bruder werde wieder zu ihm zurückkehren, da dieser doch genau von der Gefährlichkeit und Nutzlosigkeit seines blinden Eifers unterrichtet war. Immo sagte sich, daß Balduin, wenn die Kampfeslust ihn übermannte, sich auch von ihm nicht würde zurückhalten lassen. Er selbst würde dann höchstens sein Schicksal teilen müssen, ohne ihm helfen zu können, während er, wenn das Wagnis im Besitz des Zauberschwertes gelang, mit den übrigen Opfern auch seinen Bruder retten zu können hoffte. Er vertraute nun auf Springmännchens Hilfe.

Balduin war unterdessen, trotz aller Warnung, auf eigene Kraft vertrauend, und ehrgeizig hoffend, seinem Bruder mit dem Rettungswerk zuvorzukommen, durch das große, in das Schloß führende Tor geschritten. Das Klirren seiner Waffen und seiner Sporen war das einzige hörbare Geräusch ringsum; alles schien wie ausgestorben. Nur die Falken machten sich bemerkbar.

Es schien Balduin, als wollten sie ihm den Eingang in das Gebäude wehren, denn sie umflatterten ihn ängstlich kreischend.

Aber auch das beachtete Balduin in seiner Verblendung nicht; er schritt furchtlos weiter, obwohl es zu dämmern begann. „Wenn ich nur den alten Zauberer erblicke,“ so dachte er, „dann ist sein Höcker geliefert. Mein gutes Schwert spaltet am Ende ebensogut wie das Zauberschwert einen Menschen.“

Vom Hof betrat er einen weiten Saal, dessen prunkvolle Einrichtung er kaum beachtete. Seine Aufmerksamkeit galt einer etwas geöffneten Tür. Lichtschein drang durch die Spalte. Vorsichtig sich nähernd, lugte er in das Gemach, kein

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_094.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)