Seite:Märchen (Montzheimer) 114.jpg

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Als beide ein Stückchen in dieses Tor hineingingen, gewahrten sie etwas noch viel Wunderbareres: nämlich ein Schloß, das, aus mächtigen Felsquadern erbaut, mit jener Felswand verwachsen zu sein schien.

Mit ungemessenem Erstaunen schritten die Kinder bis zur Freitreppe, die in einen von Felsensäulen getragenen Vorbau führte. Aber was für Säulen waren das? Viel, viel dicker als die dicksten Waldbäume ragten sie mächtig empor, daß das Dach sicher auf ihnen ruhte. Und nun trat eine Frauengestalt ihnen entgegen, mit gütigem Antlitz, in langem, lichtblauem Gewande, die den kleinen Flüchtlingen winkte.

Eingeschüchtert, und doch voll Vertrauen, folgten beide der Voranschreitenden bis in ein prächtiges Gemach, in dem ein einladendes Mahl bereitstand. Obwohl die Kinder zu gern gewußt hätten, wer ihre freundliche Wirtin sei, wagten sie doch nicht zu fragen, und bei der angenehmen Beschäftigung, der sie gleich darauf oblagen, trat auch ihre Neugierde in den Hintergrund, denn Fleisch, Brot und Milch sowie die köstlichen Erdbeeren mundeten doch zu gut, besonders wenn man so hungrig war. Ihre gastliche Wirtin hatte augenscheinlich Vergnügen an ihrem Appetit und sagte, als die gesättigten Kinder ihr dankten:

„Preist’s als Glück, daß ihr gefunden
Meine stille Waldesklause,
Seid hier sicher vor Gefahren
In der Treue festem Hause.“

Die Kinder verstanden zwar den Sinn ihrer Worte nicht recht, aber sie fühlten sich sehr wohl bei dieser Frau und empfanden, daß diese es gut mit ihnen meinte. Darum folgten sie ihr auch schnell, als sie, abermals voranschreitend, ihnen winkte.

Nun standen sie in einem Garten, in dem lauter blaue Blumen blühten: Augentrost, Vergißmeinnicht, Immergrün und Enzian, daß es aussah, als läge dort ein Stück Himmel.

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_114.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)