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[28]

IV.

     Wir haben im vorigen in wenigen knappen Zügen die Geschichte des Massenstreiks in Rußland zu skizzieren gesucht. Schon ein flüchtiger Blick auf diese Geschichte zeigt uns ein Bild, das in keinem Strich demjenigen ähnelt, welches man sich bei der Diskussion in Deutschland gewöhnlich vom Massenstreik macht. Statt des starren und hohlen Schemas einer auf Beschluß der höchsten Instanzen mit Plan und Umsicht ausgeführter, trocknen politischen „Aktion“, sehen wir ein Stück lebendiges Leben aus Fleisch und Blut, das sich gar nicht aus dem großen Rahmen der Revolution herausschneiden läßt, das durch tausend Adern mit dem ganzen Drum und Dran der Revolution verbunden ist.

     Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, daß er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Geralstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: Es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution. Der Massenstreik ist bloß die Form des revolutionären Kampfes und jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden Kräfte, in der Parteientwicklung und der Klassenscheidung, in der Position der Konterrevolution, alles das beeinflußt sofort auf tausend unsichtbaren, kaum kontrollierbaren Wegen die Streikaktion. Dabei hört aber die Streikaktion selbst fast keinen Augenblick auf. Sie ändert bloß ihre Formen, ihre Ausdehnung, ihre Wirkung. Sie ist der lebendige Pulsschlag der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad. Mit einem Wort: Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution.
     Daraus lassen sich für die Beurteilung des Massenstreikproblems einige allgemeine Gesichtspunkte ableiten.

[29]      1. Es ist gänzlich verkehrt, sich den Massenstreik als einen Akt, eine Einzelhandlung zu denken. Der Massenstreik ist vielmehr die Bezeichnung, der Sammelbegriff einer ganzen jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Periode des Klassenkampfes. Von den unzähligen verschiedensten Massenstreiks, die sich in Rußland seit vier Jahren abgespielt haben, paßt das Schema des Massenstreiks als eines rein politischen, nach Plan und Absicht hervorgerufenen und abgeschlossenen, kurzen Einzelaktes lediglich auf eine, und zwar untergeordnete Spielart: auf den reinen Demonstrationsstreik. Im ganzen Verlauf der fünfjährigen Periode sehen wir in Rußland bloß einige wenige Demonstrationsstreiks, die sich notabene gewöhnlich nur auf einzelne Städte beschränken. So der jährliche Maifeier Generalstreik in Warschau und in Lodz – im eigentlichen Rußland ist der 1. Mai bis jetzt noch nicht in nennenswertem Umfange durch Arbeitsruhe gefeiert worden; der Massenstreik in Warschau am 11. September 1905 als Trauerfeier zu Ehren des hingerichteten Marcin Kasprzak, im November 1905 in Petersburg als Protestkundgebung gegen die Erklärung des Belagerungszustandes in Polen und Livland, am 22. Januar 1906 in Warschau, Lodz, Czenstochau und dem Dabrowaer Kohlenbecken, sowie zum Teil in einigen russischen Städten als Jahresfeier des Gedenktages des Petersburger Blutbades; ferner im Juli 1906 ein Generalstreik in Tiflis als Sympathiekundgebung für die vom Kriegsgericht wegen der Militärrevolte abgeurteilten Soldaten, endlich aus gleichem Anlaß im September d.J. während der Verhandlung des Kriegsgerichts in Reval. Alle übrigen großen und partiellen Massenstreiks und Generalstreiks waren nicht Demonstrations sondern Kampfstreiks, und als solche entstanden sie meistens spontan, jedesmal aus spezifischen lokalen zufälligen Anlässen, ohne Plan und Absicht und wuchsen sich mit elementarer Macht zu großen Bewegungen aus, wobei sie nicht einen „geordneten Rückzug“ antraten, sondern sich bald in ökonomischen Kampf verwandelten, bald in Straßenkampf, bald fielen sie von selbst zusammen.

     In diesem allgemeinen Bilde spielen die reinen politischen Demonstrationsstreiks eine ganz untergeordnete Rolle – die einzelner kleiner Punkte mitten unter gewaltigen Flächen. Dabei läßt sich, zeitlich betrachtet, folgender Zug wahrnehmen: Die Demonstrationsstreiks, die im Unterschied von den Kampfstreiks das größte Maß von Parteidisziplin, bewußter Leitung und politischem Gedanken aufweisen, also nach dem Schema als die höchste und reifste Form der Massenstreiks erscheinen müßten, spielen in Wahrheit die größte Rolle in den Anfängen der Bewegung. So war z. B. die absolute Arbeitsruhe am 1. Mai 1905 in Warschau, als der erste Fall eines so staunenswert durchgeführten Beschlusses der Sozialdemokratie, für die proletarische Bewegung in Polen ein Ereignis von großer Tragweite. Ebenso hat der Sympathiestreik im November des gleichen Jahres in Petersburg als die erste Probe einer bewußten planmäßigen Massenaktion in Rußland großen Eindruck gemacht. Genau so wird auch der „Probemassenstreik“ der Hamburger Genossen vom 17. Januar 1906 eine hervorragende Rolle in der Geschichte der künftigen deutschen Massenstreiks spielen, als

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/15&oldid=- (Version vom 29.6.2019)