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[36] Im ersteren Falle brechen Massenstreiks „von selbst“ und immer „rechtzeitig“ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos. Und für beides liefert die russische Revolution sprechende Beispiele.

V.

Es fragt sich nun, wieweit alle Lehren, die man aus den russischen Massenstreiks ziehen kann, auf Deutschland passen. Die sozialen und politischen Verhältnisse, die Geschichte und der Stand der Arbeiterbewegung sind in Deutschland und in Rußland völlig verschieden. Auf den ersten Blick mögen auch die oben aufgezeichneten inneren Gesetze der russischen Massenstreiks lediglich als das Produkt spezifisch russischer Verhältnisse erscheinen, die für das deutsche Proletariat gar nicht in Betracht kommen. Zwischen dem politischen und ökonomischen Kampf in der russischen Revolution besteht der engste innere Zusammenhang; ihre Einheit kommt in der Periode der Massenstreiks zum Ausdruck. Aber ist das nicht eine einfache Folge des russischen Absolutismus? In einem Staate, wo jede Form und jede Äußerung der Arbeiterbewegung verboten, wo der einfachste Streik ein politisches Verbrechen ist, muß auch logischerweise jeder ökonomische Kampf zum politischen werden.

     Ferner, wenn umgekehrt gleich der erste Ausbruch der politischen Revolution eine allgemeine Abrechnung der russischen Arbeiterschaft mit dem Unternehmertum nach sich gezogen hat, so ist das wiederum die einfache Folge des Umstandes, daß der russische Arbeiter bis dahin auf dem tiefsten Niveau der Lebenshaltung stand und überhaupt noch niemals einen regelmäßigen ökonomischen Kampf um die Besserung seiner Lage geführt hatte. Das Proletariat in Rußland mußte sich gewissermaßen aus dem allergröbsten erst herausarbeiten, was Wunder, daß es dazu mit jugendlichem Wagemut griff, sobald die Revolution den ersten frischen Hauch in die Stickluft des Absolutismus hineingebracht hatte. Und endlich erklärt sich der stürmische revolutionäre Verlauf der russischen Massenstreiks, sowie ihr vorwiegend spontaner, elementarer Charakter einerseits aus der politischen Zurückgebliebenheit Rußlands, aus der Notwendigkeit, erst den orientalischen Despotismus zu stürzen, anderseits aus dem Mangel an Organisation und Schulung des russischen Proletariats. In einem Lande, wo die Arbeiterklasse 30 Jahre Erfahrung im politischen Leben, eine drei Millionen starke sozialdemokratische Partei und eineinviertel Million gewerkschaftlich organisierte Kerntruppen hat, kann der politische Kampf, können die Massenstreiks unmöglich denselben stürmischen und elementaren Charakter annehmen wie in einem halbbarbarischen Staate, der erst den Sprung aus dem Mittelalter in die neuzeitliche, bürgerliche Ordnung macht. Dies die landläufige Vorstellung bei denjenigen, die den Reifegrad der gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes aus dem Wortlaut seiner geschriebenen Gesetze ablesen wollen.

[37]      Untersuchen wir die Fragen nach der Reihe. Zunächst ist es verkehrt, den Beginn des ökonomischen Kampfes in Rußland erst von dem Ausbruch der Revolution zu datieren. Tatsächlich waren die Streiks, die Lohnkämpfe im eigentlichen Rußland seit Anfang der neunziger Jahre, in Russisch Polen sogar seit Ende der achtziger Jahre, immer mehr auf der Tagesordnung und hatten sich zuletzt das faktische Bürgerrecht erworben. Freilich zogen sie häufig brutale polizeiliche Maßregelungen nach sich, gehörten aber trotzdem zu den alltäglichen Erscheinungen. Bestand doch z. B. in Warschau und Lodz bereits im Jahre 1891 je eine bedeutende allgemeine Streikkasse, und die Schwärmerei für die Gewerkschaften hat in diesen Jahren in Polen für kurze Zeit sogar jene „ökonomischen“ Illusionen geschaffen, die in Petersburg und im übrigen Rußland einige Jahre später grassierten.[1]

     Desgleichen liegt viel Übertreibung in der Vorstellung, als habe der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im ökonomischen wie im politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht der großindustriellen, großstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann man in Rußland gleiche, ja hier und da selbst höhere Löhne finden als in Deutschland. Auch in bezug auf die Arbeitszeit wird der Unterschied zwischen den großindustriellen Betrieben hier und dort kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit einem vermeintlichen materiellen und kulturellen Helotentum der russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen.


  1. Es beruht deshalb auf einem tatsächlichen Irrtum, wenn die Genossin Roland Holst in der Vorrede zur russischen Ausgabe ihres Buches über den Massenstreik meint: „Das Proletariat (in Rußland), war fast seit dem Aufkommen der Großindustrie, mit dem Massenstreik vertraut geworden, aus dem einfachen Grunde, weil partielle Streiks sich unter dem politischen Drucke des Absolutismus unmöglich erwiesen.“ (S. „Neue Zeit“ Nr. 33, 1906) Das Umgekehrte war vielmehr der Fall. So sagte auch der Berichterstatter des Petersburger Gewerkschaftskartells auf der zweiten Konferenz der russischen Gewerkschaften im Februar 1906 eingangs seines Referats: „Bei der Zusammensetzung der Konferenz, die ich hier vor mir sehe, habe ich nicht nötig, erst hervorzuheben, daß unsere Gewerkschaftsbewegung nicht etwa von der „liberalen“ Periode des Fürsten Swiatopolk Mirski (im Jahre 1904 R.L.) oder vom 22. Januar herrührt, wie manche zu behaupten versuchen. Die gewerkschaftliche Bewegung hat viel tiefere Wurzeln, sie ist unzertrennlich verknüpft mit der ganzen Vergangenheit unserer Arbeiterbewegung. Unsere Gewerkschaften sind bloß neue Organisationsformen zur Leitung eines ökonomischen Kampfes, den das russische Proletariat bereits jahrzehntelang führt. Ohne uns weit in die Geschichte zu vertiefen, darf man wohl sagen, daß der ökonomische Kampf der Petersburger Arbeiter mehr oder weniger organisierte Formen annimmt seit den denkwürdigen Streiks der Jahre 1896 und 1897. Die Leitung dieses Kampfes wird, glücklich kombiniert mit der Leitung des politischen Kampfes, Sache jener sozialdemokratischen Organisation, die der „Petersburger Verein des Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse“ hieß und die sich nach der Konferenz im März 1898 in das „Petersburger Komitee der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ verwandelte. Es wird ein kompliziertes System der Fabrik, Bezirks und Vorstadtorganisationen geschaffen, welches die Zentrale durch unzählige Fäden mit den Arbeitermassen verknüpft und es ihr ermöglicht, auf alle Bedürfnisse der Arbeiterschaft durch Flugschriften zu reagieren. Es wird die Möglichkeit geschaffen, die Streiks zu unterstützen und zu leiten.“
Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/19&oldid=- (Version vom 29.6.2019)