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[54] des Klassenkampfes das Interesse der Gesamtbewegung, d. h. die Endziele der Befreiung des Proletariats. Die Gewerkschaften vertreten nun die Gruppeninteressen und eine Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratie vertritt die Arbeiterklasse und ihre Befreiungsinteressen im ganzen. Das Verhältnis der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie ist demnach das eines Teiles zum Ganzen, und wenn unter den Gewerkschaftsführern die Theorie von der „Gleichberechtigung“ der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie soviel Anklang findet, so beruht das auf einer gründlichen Verkennung des Wesens selbst der Gewerkschaften und ihrer Rolle im allgemeinen Befreiungskampfe der Arbeiterklasse.

     Diese Theorie von der parallelen Aktion der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften und von ihrer „Gleichberechtigung“ ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern hat ihre geschichtlichen Wurzeln. Sie beruht nämlich auf einer Illusion der ruhigen, „normalen“ Periode der bürgerlichen Gesellschaft, in der der politische Kampf der Sozialdemokratie in dem parlamentarischen Kampf aufzugehen scheint. Der parlamentarische Kampf aber, das ergänzende Gegenstück zum Gewerkschaftskampf, ist ebenso wie dieser ein Kampf ausschließlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Er ist seiner Natur nach politische Reformarbeit, wie die Gewerkschaften ökonomische Reformarbeit sind. Er stellt politische Gegenwartsarbeit dar, wie die Gewerkschaften ökonomische Gegenwartsarbeit darstellen. Er ist, wie sie, auch bloß eine Phase, eine Entwicklungsstufe im Ganzen des proletarischen Klassenkampfes, dessen Endziele über den parlamentarischen Kampf wie über den gewerkschaftlichen Kampf in gleichem Maße hinausgehen. Der parlamentarische Kampf verhält sich zur sozialdemokratischen Politik denn auch wie ein Teil zum Ganzen, genauso wie die gewerkschaftliche Arbeit. Die Sozialdemokratie ist eben heute die Zusammenfassung sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes in einem auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gerichteten Klassenkampf.

     Die Theorie von der „Gleichberechtigung“ der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie ist also kein bloßes theoretisches Mißverständnis, keine bloße Verwechslung, sondern sie ist ein Ausdruck der bekannten Tendenz jenes opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie, der den politischen Kampf der Arbeiterklasse auch tatsächlich auf den parlamentarischen Kampf reduzieren und die Sozialdemokratie aus einer revolutionären proletarischen in eine kleinbürgerliche Reformpartei umwandeln will.[1] Wollte die Sozialdemokratie [55] die Theorie von der „Gleichberechtigung“ der Gewerkschaften akzeptieren, so würde sie damit in indirekter Weise und stillschweigend jene Verwandlung akzeptieren, die von den Vertretern der opportunistischen Richtung längst angestrebt wird.

     Indes ist in Deutschland eine solche Verschiebung des Verhältnisses innerhalb der Arbeiterbewegung unmöglicher als in irgend einem anderen Lande. Das theoretische Verhältnis, wonach Gewerkschaften bloß ein Teil der Sozialdemokratie sind, findet gerade in Deutschland seine klassische Illustration in den Tatsachen, in der lebendigen Praxis, und zwar äußert sich dies nach drei Richtungen hin. Erstens sind die deutschen Gewerkschaften direkt ein Produkt der Sozialdemokratie; sie ist es, die die Anfänge der jetzigen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland geschaffen hat, sie ist es, die sie großgezogen, sie liefert bis auf heute ihre Leiter und die tätigsten Träger ihrer Organisation. Zweitens sind die deutschen Gewerkschaften ein Produkt der Sozialdemokratie auch in dem Sinne, daß die sozialdemokratische Lehre die Seele der gewerkschaftlichen Praxis bildet, die Gewerkschaften verdanken ihre Überlegenheit über alle bürgerlichen und konfessionellen Gewerkschaften dem Gedanken des Klassenkampfes; ihre praktischen Erfolge, ihre Macht sind ein Resultat des Umstandes, daß ihre Praxis von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus erleuchtet und über die Niederungen eines engherzigen Empirismus gehoben ist. Die Stärke der „praktischen Politik“ der deutschen Gewerkschaften liegt in ihrer Einsicht in die tieferen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der kapitalistischen Ordnung;


  1.       Da das Vorhandensein einer solchen Tendenz innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gewöhnlich geleugnet wird, so muß man die Offenherzigkeit begrüßen, mit der die opportunistische Richtung neulich ihre eigentlichen Ziele und Wünsche formuliert hat. In einer Parteiversammlung in Mainz am 10. September d. J. wurde folgende von Dr. David vorgelegte Resolution angenommen:      „In der Erwägung, daß die Sozialdemokratische Partei den Begriff „Revolution“ nicht im Sinne des gewaltsamen Umsturzes, sondern im friedlichen Sinne der Entwicklung, d. h. der allmählichen Durchsetzung eines neuen Wirtschaftsprinzips, auffaßt, lehnt die Mainzer öffentliche Parteiversammlung jede „Revolutionsromantik“ ab.      Die Versammlung sieht in der Eroberung der politischen Macht nichts anderes als die Eroberung der Mehrheit des Volkes für die Ideen und Forderungen der Sozialdemokratie; eine Eroberung, die nicht geschehen kann mit gewaltsamen Mitteln, sondern nur durch die Revolutionierung der Köpfe auf dem Wege der geistigen Propaganda und der praktischen Reformarbeit auf allen Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens.      In der Überzeugung, daß die Sozialdemokratie weit besser gedeiht bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz, lehnt die Versammlung die „direkte Massenaktion“ als taktisches Prinzip ab und hält an dem Prinzip der parlamentarischen Reformaktion fest, d. h., sie wünscht, daß die Partei nach wie vor ernstlich bemüht ist, auf dem Wege der Gesetzgebung und der organischen Entwicklung allmählich unsere Ziele zu erreichen.      Die fundamentale Voraussetzung dieser reformatorischen Kampfesmethode ist freilich, daß die Möglichkeit der Anteilnahme der besitzlosen Volksmasse an der Gesetzgebung im Reiche und in den Einzelstaaten nicht verkürzt, sondern bis zur vollen Gleichberechtigung erweitert wird. Aus diesem Grunde hält es die Versammlung für ein unbestreitbares Recht der Arbeiterschaft, zur Abwehr von Attentaten auf ihre gesetzlichen Rechte sowie zur Erringung weiterer Rechte, wenn alle anderen Mittel versagen, auch die Arbeit für kürzere oder längere Dauer zu verweigern.      Da der politische Massenstreik aber nur dann siegreich für die Arbeiterschaft durchgeführt werden kann, wenn er sich in streng gesetzlichen Bahnen hält und seitens der Streikenden kein berechtigter Anlaß zum Eingreifen der bewaffneten Macht geboten wird, so erblickt die Versammlung die einzig notwendige und wirksame Vorbereitung auf den Gebrauch dieses Kampfmittels in dem weiteren Ausbau der politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisation. Denn nur dadurch können die Voraussetzungen in der breiten Volksmasse geschaffen werden, die den erfolgreichen Verlauf eines Massenstreiks garantieren: zielbewußte Disziplin und einen geeigneten wirtschaftlichen Rückhalt.“
Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/28&oldid=- (Version vom 9.9.2019)