Ein Schneider schlug einst einen Juden todt, um ihn zu berauben. Der Jude aber sagte, bevor er starb, zu dem Schneider: „Die Sonne wird Dich noch verrathen!“ Und das waren seine letzten Worte.
Viele Jahre vergiengen und Niemand dachte mehr an den gemordeten Juden. Der Schneider nahm eine Frau und war glücklich und wohlhabend und geachtet von seinen Mitbürgern. – Da lag er eines Sonntagmorgens noch im Bett, als die Sonne schon hell durch’s Fenster schien und bis auf sein Bett kam. Da mußte er laut lachen, daß die Frau gar nicht begreifen konnte, was ihrem Manne sei und weshalb er lache, und sie ließ ihm keine Ruhe, bis er ihr Alles entdeckte. „Ich habe, fieng er an, vor vielen Jahren einmal einen Juden umgebracht und der hat sterbend gesagt: die Sonne werde mich noch verrathen. Und wie sie nun eben da auf’s Bett scheint, fällt mir die Geschichte wieder ein und ich mußte lachen, indem ich dachte: die Sonne würde wohl gerne schwätzen; aber sie hat ja keine Zunge!“
Der Frau war es entsetzlich, daß ihr Mann ein Mörder war und sie konnte ihn nimmer lieb haben. Bald bekamen sie Streit mit einander, und da sie es nicht länger bei ihm aushalten konnte und ein Grauen vor ihm hatte, so zeigte sie die ganze Sache dem Gerichte an. Nachdem der Schneider alsdann selbst seine Schuld eingestanden, wurde
Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Scheitlin, Stuttgart 1852, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meier_Volksm%C3%A4rchen_aus_Schwaben_053.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)
