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22. Fläschlein, thu deine Pflicht!

Einige Stunden von Stuttgart, in der Gegend wo jetzt Hohenheim liegt, wohnte in alten Zeiten ein Müller, der konnte mit seiner Mühle nicht vorwärts kommen, denn sie gehörte erstens nicht ihm, sondern einem Edelmann, dem er viel Pachtgeld dafür bezahlen mußte; und zweitens fehlte es der Mühle oft an Waßer, so daß er nur wenig mahlen und wenig damit verdienen konnte. Dadurch war der Müller allmählig so arm geworden, daß er schon seit mehren Jahren nicht im Stande war, das Pachtgeld zu bezahlen. Weil der Edelmann ihn aber so sehr bedrängte, und ihn aus der Mühle vertreiben wollte, wenn er nicht alsbald seine Schuld entrichtete, so nahm der Müller endlich seine einzige Kuh und gedachte, um Geld zu bekommen, sie auf dem Markte zu verkaufen.

Wie er nun bekümmert mit seiner Kuh durch den Wald zog, kam ein kleines Männlein daher und fragte den Müller: was ihm fehle? Nachdem er dem Männlein alles genau erzählt hatte, sprach es: „ich will Dir die Kuh abkaufen und gebe Dir dieß kleine Fläschlein dafür. Wenn Du das auf den Tisch stellst und sprichst: Fläschlein, thu deine Pflicht! so wird Dir nichts mehr mangeln.“ Der Müller aber war ängstlich und sagte: „ach, was wird meine Frau sagen, wenn ich statt des Geldes mit diesem Fläschlein komme!“ „Ei,“ antwortete das Männlein, ganz ärgerlich, „wie magst Du Dich noch lang besinnen? weißt Du denn, ob Du Deine Kuh auch nur lebendig auf den Markt bringen wirst?“

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Scheitlin, Stuttgart 1852, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meier_Volksm%C3%A4rchen_aus_Schwaben_076.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)