Seite:Meier Volksmärchen aus Schwaben A 006.jpg

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Kunstpoesie behängt und auf die Art weder der Volksdichtung noch der Kunstdichtung ein Genüge thut. Zu dieser Gattung gehören sowohl die innerlich höchst leblosen, selbsterfundenen oder zusammengeleimten Märchen, als namentlich auch alle novellenartig zugestutzten und modern ausgesponnenen Volkssagen. Daß übrigens selbstständige Dichtungen, wie z. B. Fouque’s Undine und Chamisso’s Peter Schlemihl nicht zu dieser Zwittergattung gehören, versteht sich von selbst; denn in diesen Stücken haben Form und Inhalt, Körper und Geist zu vollkommener Befriedigung sich durchdrungen und vermählt.

Was die epischen Stoffe betrifft, welche diesen schwäbischen Märchen zur Grundlage dienen, so gehören sie bekanntlich einem großen Theile nach der mythischen Götter- und Heldensage an und müßen ein uraltes Gemeingut aller deutschen Stämme gewesen sein. Deshalb finden sich auch hier die altheidnischen Elemente und selbst die stehenden Charaktere der Grimm’schen Märchen in ähnlicher Weise wieder, aber vielfach eigenthümlich und mit neuen, überraschenden Zügen. Auf’s mannigfaltigste und immer neu ist z. B. das bekannte Thema behandelt, wie ein Jüngling, gewöhnlich der jüngste und anscheinend dümmste von drei Brüdern, eine Jungfrau, die entweder dem Teufel verfallen ist, oder theils von einem Drachen, theils von drei Riesen in Verwahrung gehalten wird, befreit, dann sie heirathet und mit ihr unermeßliche Schätze gewinnt. So z. B. Nr. 1, der Schäfer und die drei Riesen; Nr. 5, der kranke König und seine drei Söhne; Nr. 29, Hans und die Königstochter; Nr. 58, der Drachentödter u. s. w. Siegfried (der nordische Sigurd), der göttliche Held voll unbewußter Hoheit, der die Kriemhild vom Drachen erlöst, blickt hier überall deutlich durch. Umgekehrt werden auch Männer durch kühne Jungfrauen aus der Gewalt böser Mächte befreit. Die Schwester zieht aus, um die zu Raben verwünschten Brüder zu suchen und zu erlösen und besteht glücklich alle Gefahren; oder es gelingt ihr, einen Schatz zu gewinnen, den die Brüder nicht hatten heben können, und deshalb

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Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Scheitlin, Stuttgart 1852, Seite VI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meier_Volksm%C3%A4rchen_aus_Schwaben_A_006.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)