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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/11

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Gemüth berühren und den Gedanken spannen. In den Urwäldern von Minnesota, an den Gestaden des Itasca, lauschten niemals die Hirten der Leyer eines Orpheus, auf seinen Wellen schifften nicht die Helden der Argo, kein Jason und keine Helena geben dem Dichter oder der Sage Stoff; nicht Völker, reich, mächtig, geistig hochgebildet und an Leib wie die Götter schön, wohnten jemals am großen Strome, und die Geschichte erzählt nicht von der Kultur und dem Reichthum vergangener Reiche. Was sie uns bewahrt, ist ein nüchterner Bericht von Büffel- und Bärenjagenden Rothhäuten, ihren kannibalischen Festen und Kriegen und ihrer Ausrottung durch das Feuerwasser und die Waffen der Weißen. Doch wie bald wird sich die Scene ändern! wie bald wird der Europäer mit seiner Gesittung auch in die stille Waldöde dringen: wie bald werden die Urwälder niederstürzen unter den Hieben seiner Axt; wie bald werden sich Städte in den klaren Quellseen spiegeln mit ihrem Handel und ihren Schätzen, mit ihrer Bildung und ihrem Wissen, – und wie lange wird es dauern, daß die weißen Erben jener rothen Bärenhäuter der alten Welt neue Gesetze schreiben! –

Die Entwickelung des Kulturlebens am Mississippi ist so riesenhaft wie seine Natur. Um jene zu fassen, muß man vor Allem diese betrachten. Wir hören wohl auch in unserer alten Welt erzählen, daß da und dort eine Bucht oder ein Hafen, in welche ein Fluß mündete, versandete: wir hören von Seestädten aus alten Zeiten, die heute ein oder zwei Meilen landeinwärts liegen; wir lesen von den Alluvien der Thäler des Po, des Rheins und der Donau und von den Veränderungen, welche durch Anschwemmung und Niederschlag im Laufe der Jahrtausende vorgingen; aber was will das sagen gegen die Eroberungen, welche der Mississippi gemacht hat und noch macht? Was bedeuten diese schmalen Landstreifen gegen die weiten Gebiete, welche der Vater der Ströme dem Ocean abgewonnen? Die Wogen des Golfs, welcher heute den Namen des Mexikanischen trägt, bespülten einst jene tief im Lande gelegenen Höhen, deren Ränder noch mit den Resten von Meerwasserschalthieren bedeckt sind. Heute tobt die Brandung desselben Meeres in ohnmächtigem Zorn über seine Verluste fast tausend englische Meilen fern von seinen alten Küsten. Fast die Hälfte jenes einst so großen Beckens, größer als Deutschland, die Schweiz, Holland und Dänemark zusammen, hat der Mississippi schon dem Meere abgenommen, und immer und immer weiter baut er festes Land von dem Boden des Meeres auf und vergrößert damit sein Territorium. „Der Mississippi ist in Wahrheit alle Zeit ein Mehrer seines Reichs!“ Die Zuckerfelder in den Niederungen Louisiana’s, das reiche Bottomland in den Staaten Mississippi, Tenessee, Illinois und Missouri, sie danken ihm allein ihren Ursprung. Ohne die vom Mississippi und den Nebenströmen beständig gemachten Eroberungen würde Nordamerika heute keinen Zucker und keine Baumwolle ernten und die reichen Marschen entbehren, auf welchen der Tabak Jahrhunderte lang ohne Dünger gedeiht und der Mais dem Bauer mit zweihundertfältiger Ernte lohnt. Es würden ihm die Güter entgehen, wodurch er sich die Welt zinsbar macht, und die Gebiete unerschöpflicher Fruchtbarkeit mangeln, in denen er Europa und der seines Jammers