| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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und nun läuft 6 bis 8 Wochen lang der Saft, der zur Bildung des gewaltigen Blumenschafts dienen sollte, aus der Wunde. Er wird aufgefangen, und, nach der Gährung, als Wein genossen. Eine Pflanze gibt öfters täglich nicht weniger als 3 preuß. Quart. Von Caktusarten zählt man einige fünfzig und sie sind die treuen Begleiter des Reisenden auf der ganzen Fahrt. Kaum gibt es unter den Blüthe und Frucht tragenden Pflanzen irgend eine Gruppe, die mannichfaltiger in ihrer Grundform und herrlicher in ihren Blumen wäre. Bald kugelförmig, bald gegliedert, bald in hohen, vieleckigen Säulen, wie Orgelpfeifen, aufrecht stehend, bald in schlangenähnlichen Ranken über die nackten Felsen herabhängend, bilden sie den höchsten Kontrast mit den stolzen Palmen, die sie beschatten, und mit den schönblätterigen Magnolien und Bananen. Die säulenförmigen Arten bilden mit ihren kreuzweise ineinandergreifenden langen Stacheln undurchdringliche und feste Einfriedigungen für Häuser und Gärten, an den Brücken und den gefährlichen Stellen der Straße. Nichts Prächtigeres gibt es als diese Umzäunungen, wenn sie in Blüthe stehen, und nichts Freundlicheres, als wenn sie, mit ihren säuerlichen wohlschmeckenden Früchten ganz bedeckt, jeden Vorüberziehenden zur Erquickung einladen. Die Cakteen liefern dem Centroamerikaner das Material zu seinen Stricken und Tauen; zu seinen Körben und Netzen; das Holz zu seinen Thürpfosten und Schwellen. Er zieht es zu diesem Zweck allem andern vor; denn es ist fast unverwüstlich. Aus der Caktus Opuntia sammelt er jenen kostbaren Farbstoff, der, als Cochenille, einen Hauptexport Mittelamerika’s ausmacht. Die dürren Stengel geben ihm ein gutes Brennmaterial, und den Thieren sind die kugelförmigen Arten beständig gefüllte Behälter, um ihren Durst zu löschen, wenn in der tropischen Dürre die Quellen und Bäche versiegen. Das Maulthier schlägt dann mit dem Vorderhufe die Stacheln seitwärts und saugt den etwas bitterlichen, aber kühlenden Saft auf. – Palmen, der Sonne Lieblinge, stehen an allen sonnigen Stellen; wo sie aber das Sonnenlicht nicht in Fülle haben können, da wächst keine Palme; an ihre Stelle treten dann aber, in den feuchten, schattigen Gründen, die zierlichen baumartigen Farren, deren, auf einem Stamm von 16–20 Fuß Höhe aufsitzende, 6–10 Fuß lange, Blattwedel in Bogen bis an den Erdboden herabhängen und kuppelartige Gewölbe bilden, – unserer Traueresche ähnlich, nur zierlicher und schöner. Aus ihren dunkeln Lauben blitzen Strelitzien und andere farbenreiche Blumen, – kurz, wer die Prachtbilder der Pflanzenwelt in jenen glücklichen Regionen, wo die Kränze der Flora von der rauhen Hand des Winters niemals entblättert werden, einmal gesehen hat, Dem werden sie nie wieder aus der Erinnerung entfliehen. Eine Menge Nutzpflanzen, welche Farbestoffe und andere Waaren dem Handel liefern, als Indigo, Cacao, Baumwolle, Zucker, Kaffee, Vanille, – wachsen wild in Centralamerika, oder sind der Gegenstand des Anbaues auf den Plantagen und Gütern; ihr Ertrag aber könnte das Hundertfache seyn, wären Fleiß und Spekulation statt Trägheit und Indolenz in der Bevölkerung heimisch. Wundern wir uns nicht darüber! We einige Agavenpflanzen und ein Dutzend Palmen hinreichen, einen Menschen
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/114&oldid=- (Version vom 28.8.2025)