Zum Inhalt springen

Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/12

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

müden Menschheit ein Asyl bietet, lockender als alle Paradiese der Tropenländer. Dem Geognosten zeigen jene tief in dem Lande sich erhebenden alten Felsgestade deutlich die vormalige Ausdehnung des Meeres, und dadurch ist er im Stande, die Eroberungen des Mississippi zu messen. Ihr Flächenraum ist 400,000 englische Quadratmeilen, eine ungeheure Zahl! Und dies große Reich ist des Mississippi eigenstes Werk. Er hat es geschaffen im Laufe der Jahrtausende, er hat es aufgemauert von dem Grunde des Oceans zum Tageslicht; 1000 englische Meilen fließt er durch selbst gemachtes Land. Was wir in dieser Art auf der übrigen Erde sehen, vergleicht sich dagegen wie Ameisenwerk zu den Thaten der Giganten. Dabei ist der Baumeister mit einer Regelmäßigkeit zu Werke gegangen, die Erstaunen erregt. Sein Bett grub er mit genau 3¼ Zoll Fall auf die englische Meile ein. Es ist dies ein großer Vortheil für die Schifffahrt; denn bei der geringen, kaum merklichen Neigung ist auf- wie abwärts der Bedarf an Triebkraft für die Bewegung der Fahrzeuge fast gleich; man schifft auf dem Mississippi wie auf der Ebene des Oceans.

Der gewöhnlich in großartiger Ruhe dahin wogende Vater der Ströme kann aber auch zürnen. Wenn die Gewitter von den Prairien aufsteigen und sich unter Tage langem Donnern und Blitzen mit Wolkenbrüchen und Platzregen an den Gebirgen entladen, – wenn die tausend und aber tausend Schluchten und Rinnsale, bis an den Rand gefüllt, ihre trüben Fluthen dem Mississippi zuschicken, beladen mit den ausgerissenen Bäumen des Urwalds und den zertrümmerten Uferwänden: dann verliert der majestätische Strom den Charakter der Ruhe und der spendende, wohlthätige Gott wird ein Gott der Verwüstung. Man sieht dann die ungeheure Wasserfläche mit Bäumen, Sträuchern und Stücken bewachsenen Landes, wie schwimmende Eilande, bedeckt, und dazwischen treiben die fortgerissenen Häuser und Mühlen, die Balken, Breter, Umzäunungen, Ställe, Blockhäuser, Steine und Felsstücke und die Leichen der wilden und zahmen Thiere. Flöße, Boote und Fahrzeuge suchen dann irgend einen Schlupfwinkel an dem Ufer zu gewinnen, wo sie der Gefahr der Zertrümmerung weniger ausgesetzt sind; – viele aber gehen dennoch zu Grunde und ihre Trümmer und Ladungen vermehren des Chaos. Am schreckhaftesten ist der Anblick des Stroms unterhalb der Mündung des Missouri, der, wilder noch als sein Herr, das ganze Thal mit einer dicken, rothgelben Fluth gefüllt hat, in der er dem Gebirge das Material für die Bauten des Mississippi im Golf von Mexiko entführt. Wird dann das Bett des Mississippi streckenweise zu enge, um die ungeheure Fluth zu fassen, so wogt sie über das Land hin, hunderte von Quadratmeilen überströmend. Wie zwergige Büsche schauen dann die Spitzen der kolossalen Bäume aus der zum Meer gewordenen Ebene, und wenn sie der Sturm peitscht und das Wasser zerwühlt und in den Wipfeln des ersoffenen Urwalds heult, so wird das Bibelbild der Sündfluth lebendig.

Nur ein Wesen in der Schöpfung wagt’s, diesen wilden, losgelassenen Zerstörungskräften kaltblütig zu trotzen: der Mensch, der Mensch in seinem leichten vielstockigen Breterkasten, in welchem der Zauberer Dampf, des Menschen Knecht, die Wogen schlägt. Es ist einmal Yankeebrauch, vor keiner Gefahr zu flüchten, und mag