| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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oder schmücken als malerische Trümmer die Landschaft; die Klöster und reichen Stifter, wo Müßiggang sich mästete, und Aberglaube und Verdummung Propaganda machten, sind zu Stätten des gewerblichen Fleißes oder zu Pflanzschulen für Volksbildung und Unterricht geworden, die Flecken wuchsen zu Städten an, die Städte wurden Sitze des Wohlstands und der Intelligenz, und die einstigen Urwälder und Wildnisse verwandelten sich in eine Landschaft, welche an Fruchtbarkeit und lachender Schönheit ihres Gleichen sucht. Der Kanton gehört zur sogenannten ebenen Schweiz, jenem gepriesenen Hügellande, welches sich von den Rändern des Hochgebirgs in Ost und Nord nach dem Thale des Rheins hin abdacht, dem es seine Flüsse und Bäche durch liebliche Gründe zusendet. Die Aar, die dem Lande den Namen gibt, ist sein Hauptstrom und in dieselbe münden die meisten übrigen Flüsse des Kantons. Alle Thäler sind die Sitze einer überaus zahlreichen Bevölkerung, die weniger in eng zusammengedrängten Dörfern, als in einzelnen Gehöften wohnen, welche, abwechselnd mit Fabriken, Landhäusern, Mühlen, Feldern und Wiesen, Weinreben und Obstpflanzungen, in den Gründen bis zu ihren Spitzen hinziehen, während sich auf den Höhen selbst ansehnliche Kirchdörfer inmitten großer Fruchtfelder gelagert haben. Prächtige Kunststraßen durchziehen das Ländchen in allen Richtungen, ein nie rastender Verkehr bewegt sich auf denselben und überall treten die heitern Bilder menschlicher Thätigkeit, Intelligenz und Ordnung dem Auge entgegen. Sie geben Zeugniß von Dem, was, unter einer weisen Verfassung und patriotischen Führern, die demokratische Selbstregierung selbst in engern Wirkungskreisen für treffliche Früchte hervorbringen kann.
Und sie hat sie hervorgebracht in wenigen Jahrzehnten; denn das Daseyn des Aargaus, als eines freien selbstständigen Staats (Kantons) datirt sich vom Beginn des laufenden Jahrhunderts. Die neue Republik entstand aus den buntschäckigen Lappen und Flicken der alten Feudalwirthschaft der benachbarten Kantone, den Territorien der Klöster, Stifter und Prälaturen der Kirche, und, wie das österreichische Frickthal, aus mancherlei Besitzungen fremder Fürsten, die durch Friedensschlüsse, oder auf Napoleons, des damaligen Vermittlers Diktat, der Schweiz einverleibt wurden. – Alle diese Länderfetzen besaßen seit Jahrhunderten von einander abweichende Gesetzgebungen, Gewohnheiten und örtliche Interessen. Selbst der Charakter ihrer Bewohner hatte verschiedene Physiognomien. Religion und Glaubensformen waren nicht weniger mannigfaltig als der Stand der Intelligenz und Schulbildung. Im alten Aargau galt der reformirte Glaube, zu kaltem, todten Formenwerk verknöchert; im Frickthale der Katholizismus, von Joseph II. Geist durchwebt; im Freiamt und in der Grafschaft Baden hatte der finstere, gedankenlose, alleinseligmachende Priester- und Mönchsglaube neben krasser Unwissenheit seine Stätte. In mehr denn einer Ortschaft konnte der Vorstand nicht einmal seinen Namen schreiben. Noch ein Uebel kam dazu. Viele der Landesgenossen waren keine Staatsgenossen. In der Schweiz, wie im alten Germanien, und wie jetzt wieder in Nordamerika, ruht das Leben der Republik, des Staats, auf dem Leben der Gemeinde; dies ist die
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/144&oldid=- (Version vom 1.9.2025)