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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/145

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Wurzel, aus dem jenes sproßt. Die Selbstregierung geht von der Gemeinde aus, – die ihre Beamten, Richter, Lehrer, Pfarrer ohne Zuthun der Regierung wählt. In den Schweizergemeinden ist aber Niemand stimm- und wahlfähiger Bürger, als wer zum Mitgenuß an Kirchen- Schul- und Armengut, den Kapitalien, Waldungen und Ländereien berechtigt ist. Diese sind gemeinsames Vermögen der Ortsbürgerschaft. Ohne Ortsbürgerrecht hat kein Ortseinwohner (Insasse) Stimm- und Wahlrecht; ohne Ortsbürgerrecht hat auch keiner Staatsbürgerrecht in der Schweiz. Es kann einer vom Urgroßvater her in der Schweiz ansässig seyn, und ist doch – kein Schweizer. – Es kann aber auch der Bürger einer Gemeinde eines Kantons niemals Bürger in einem andern Orte der Eidgenossenschaft seyn; und hätte er in allen Kantonen Grundbesitz im Werth von Hunderttausenden: er wäre doch nur in dem einen Ort Bürger, in allen andern bliebe er ohne ortsbürgerliche Rechte. Diese Eigenthümlichkeit des schweizerischen Staatsthums, uralten deutschen Herstamms, wird von Auslande selten mit Klarheit begriffen und veranlaßt daher häufig die irrigsten Ansichten. – Nun aber lebten damals in Aargau viele Tausende, deren Voreltern seit Jahrhunderten vielleicht Einwohner des Landes gewesen waren und doch keine Bürger; es lebten Nachkömmlinge eingewanderter Handwerker und Arbeiter in den Gemeinden zu Tausenden, welche ihr ursprüngliches Vaterland verloren und vergessen hatten; andere Tausende, die Nachkömmlinge von französischen Flüchtlingen aus der Hugenottenverfolgung und von Proselyten aus katholischen Kantonen, welche mit dem Uebergang zur evangelischen Kirche das alte Heimathsrecht eingebüßt hatten; andere Tausende, Nachkommen von Fremdlingen aus aller Herren Länder, welche vor der Verfolgung der Tyrannen ein Asylrecht angesprochen und erhalten hatten; endlich eine große Anzahl von Heimathlosen – von jener Menschenklasse ohne bleibende Stätte, die, mit Duldungsscheinen versehen, in sämmtlichen Kantonen der Schweiz umherzogen, und denen man, nachdem sie zur wahren Landplage geworden waren, feste Wohnsitze anwies, bei welchem Akt dem Aargau nicht weniger als 600 dieser Unglücklichen zufielen.

Und aus solchen Bestandtheilen sollte eine Republik geschaffen werden, und zwar eine demokratische, ruhend auf der Grundlage vollkommener Rechtsgleichheit aller Bürger! Demungeachtet haben wenige Jahre hingereicht, um durch den sittigenden Einfluß der Freiheit der Presse, des Gewissens, des Verkehrs, der Niederlassung, der Obrigkeitswahlen, – kurz der Selbstregierung – alle früher einander völlig fremde Volks- und Landestheile des jungen Freistaats zu verbrüdern, den Gemeingeist zu wecken und alle guten Kräfte in dem braven Volke zur heilsamen Regsamkeit und zum segensreichen Wirken zu entfalten. So wurde ein Staatsleben geschaffen in diesem glücklichen Ländchen, daß nicht nur wetteifern konnte in öffentlichen Ordnungen und Einrichtungen mit den besten der ältern Schweizer Kantone, sondern für manche ein Vorbild war und geblieben ist bis zur Stunde, würdig ihrer Nacheiferung und beneidet von Vielen. Dazu waren in dem Land keine Befehle eines