| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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Im Kleid der Sage erscheint das Kindesalter der Menschheit als die goldene Zeit. Den eben aus der schaffenden Hand des Allmächtigen hervorgegangenen Menschen dachte man sich frei von allen Mängeln. Schön von Gestalt, größer, stärker und mächtiger, verlieh die Vorstellung seinem Leben eine längere Dauer, seiner Seele Reinheit und Unschuld; seinem Verstande eine angeborene größere Schärfe, seinem geistigen Auge einen tiefern, unbefangenern Blick in die Natur und die Werke Gottes; sie stellte ihn näher dem Schöpfer, machte ihn zum Gegenstand seiner beständigen Pflege und Sorgfalt und würdigte ihn der unmittelbaren Obhut des Höchsten. Erst die Entartung der ursprünglich reinen und göttlichen Menschennatur – durch den dämonischen Einfluß des Thierschen und den Mißbrauch des freien Willens – schwächte seine Kraft, kürzte die Dauer seines Daseyns, minderte die Urschönheit seiner Gestalt, beschmutzte die Reinheit und verringerte die Macht und Kraft des Geistes. Die über das sündige Geschlecht erzürnte Allmacht warf ihn strafend herab von der Hohe seines Ursprungs und erniedrigte ihn zu jenem Wesen, welches im beständigen Streite seiner Doppelnatur befangen, das, was die ursprüngliche Mitgabe des Menschen war, nur durch dauernde Tugendübung in der Schule der Leiden und der Versuchung, und durch die beharrlichen Anstrengungen des Geistes unvollkommen wiedererwerben kann.
So ist die Vorstellung, die uns durch die Sage von dem Urgeschlechte der Menschheit überkommen; – eine erhabene Vorstellung, aber doch nur eine Mythe. Sie wurzelt in den ältesten Religionen, und ihre Ueberlieferungen leben fort in der Seele des Dichters; aber in der Wirklichkeit finden sie keinen Spiegel, und der Forschung unermüdliche Arbeit hat das Mährchen von seinem Heiligenschein entkleidet. Wir wissen, daß der unkultivirte Mensch überall und unter allen Zonen den Typus der Rohheit an sich trägt, welcher ihn dem wilden Thiere öfters näher rückt, als dem gesitteten Menschen in seiner höchsten Entwickelung. Wir kennen gegenwärtig
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/155&oldid=- (Version vom 3.9.2025)