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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/19

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jede Veränderung willkommen: Königthum, Revolution, Diktatur, Republik, Kaiserreich, Schreckensregiment, Plebiszit, Kapuzinerthum, Kommunismus, Barrikaden, Abd el-Kader. Wegen des Vergnügens sucht er den Ruhm in der Schlacht, pilgert er nach St. Sulpice in Sack und Asche, hört er die Rachel in der Oper, die oraison funèbre in Père la Chaise. Die Legitimität wäre ihm recht, wäre sie nicht gar zu langweilig, und den Tod haßt und fürchtet er nur aus dem Grunde, weil er nicht amüsirt; ja, er würde Mohammedaner werden, wenn der Prophet nicht den albernen Streich gemacht hätte, für die Freuden seines Himmels von dem Vergnügen auf der Erde einen hohen Discont zu fordern. Was ihn nicht vergnügt, das rührt er nicht an, was ihn nicht berauscht, dem klatscht er nicht Beifall. Aber für Vergnügen ist ihm Alles feil: Liebe und Lust, Können und Wissen, Ehre und Freiheit. Im Gegentheil murrt er über Alles und spottet er über Alles, was ihn langweilt, und gleichgültig verläßt er, sobald er gähnen muß, seine Könige, seine Eroberungen, seinen Ruhm, seine Götzen, mögen sie von Bronze oder Glas seyn. Er wirft sie weg aus ennui, wie er seine Strümpfe, seine Gesundheit, sein Vermögen wegwirft. Paris ist gefährlich nur dann, wenn es sich langweilt; es braucht stets Erregung zum Leben, es braucht stets Etwas, das die Leidenschaften anspannt, und dieses führt Ereignisse herbei, an welche die Welt nicht denkt. Der Pariser passionirt sich nur für die Spender des Vergnügens, sey es das Gold, sey es dieMacht. Eine Zehntausendfrankennote ist ihm lieber, als alle Liebe, und wer ihn vergnügt, von dem duldet er Alles: er duldet die Regierung mit der Phrase, die Regierung mit der Guillotine, die Regierung mit Cayenne und Lambessa; er duldet die Religion als Eva und in der Kapuze, Haynau und Louis Napoleon, wenn sie amüsiren! – Gold und Vergnügen sitzen permanent auf dem Throne dieser Stadt ohne Glauben, ohne Sitte, ohne Gefühl und ohne Wahrheit, und wenn Ihr dieses Labyrinth von Mörtel und Schmuz, und die Gedanken, die Affekte, die es bewegen, erschüttern, verwirren, kennt, so werdet Ihr für die hundert Räthsel und tausend Fragezeichen, denen Ihr begegnet, immer dieselbe Lösung, dieselbe Antwort finden.

Laßt es uns einmal versuchen, auf diesem Meere, das Millionen vor uns durchschifft und durchforscht haben, irgend ein unbekanntes Eiland zu finden. – Wir schiffen planlos hinaus, den Zufall am Steuer, Wind und Wetter als Führer.

„Boulevard des Italiens!“ – Der Fiaker rasselt durch die Rue vivienne, durch die Straße der Foulds und der Rothschilde, über den Börsenplatz hin, am großen Opernhaus vorüber. Der Schlag wird geöffnet – die dürre Hand empfängt ihr 20-Sousstück – nous voilà! Wie schön, heiter, glücklich erscheint hier Alles! Der Boulevard des Italiens ist der Tummelplatz der goldenen Jugend, das Eden der Flaneurs und Maulaffen, der Damenwelt mit ihren Wünschen und Gelüsten. Diamanten, Gold, persische Shawls, Brüsseler Points, indische Essenzen und Parfümerien, exotische Pflanzen, seltene Früchte glitzern und prangen hinter Spiegelfenstern in den prächtigen