| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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Läden; dazwischen Costumes aller Phantasieen und reizende Frauenbilder für alle Träume. – Ist das Alles Wirklichkeit oder nur Schein? Dies oder Jenes, oder auch Beides, wie Du’s deuten magst. Die Trottoirs gleichen dem wogenden Meere, die reichen Equipagen, Fiaker aller Gestalten, Omnibusse und Fahrzeuge aller Gattungen machen sich den Fahrweg streitig; Dich selbst reißt die Menschenwoge hin, und mehr fortgestoßen und fortgetragen als gehend, schöpfst Du erst auf dem Boulevard St. Martin wieder Athem. Hier hat das Straßenleben die vornehme, aristokratische Maske abgestreift. Tabaksqualm und Bier dampfen aus den Billards und Cafés, Gerüche der Küche aus den Restaurants. Die gute Gesellschaft verirrt sich nicht in diese Region; sie gehört dem Kleinbürger, dem Handwerker, dem subalternen Beamten. Erst am Thor von St. Denis, der steinernen Lüge von der Größe Ludwigs XIV., verändert sich die Staffage wieder. Die Straßen dieser Nachbarschaft gehören meistens der Industrie, den Fabriken, den großen Werkstätten und den Niederlagen, wo die unzähligen Artikel gefertigt und aufgespeichert werden, für welche die Welt der Stadt Paris zinsbar geworden ist. Die Karossen der reichen Fabrikherren rollen über den Fahrweg; aber auf den Trottoirs haben die Blouse und die Grisette des Arbeiters die Majorität. Gegen Abend, wenn die vielen in dieser Gegend befindlichen kleinen Theater ihre Pforten öffnen, steigert sich das Leben zum Gedränge und der Name des anstoßenden Boulevard du Crime erhält dann die Bedeutung einer Wahrheit. Bei jedem Zwischenakte (das Spiel in den kleinen Theatern dauert bis Mitternacht) ergießen sich die in den engen Räumen eingeschlossenen Menschenmassen, durstig nach frischer Luft und Erquickung, über die Boulevards Du Grime und du Temple, und bei dieser Gelegenheit werden die geschicktesten Diebstähle und die frechsten Räubereien verübt. Hier sind die Contremarkenhändler und die Condottieri der Theater-Kritik zu finden: die Glaqueurs und Succeßmacher; und ein Autor, ein Dramatiker, welcher die Mittel und Wege kennt, die zur literarischen Celebrität eines Abends oder einer Saison führen, kann hier für eine Handvoll Franken eine Ladung Beifall und Renommée allezeit haben. Da drängen sich auch die Cries de Paris, jene schreienden, wandernden Apfelsinenhändlerinnen, Kuchenverkäufer, Blumenmädchen, Cocospender, Colporteurs der Journale und Zeitungen, die spähenden Gamins, die Commissionairs, die Gelegenheitmacher, die Kupplerinnen mit ihren Dirnen, die Agenten der geheimen Polizei und die Sergeants de Ville; – und vermengt mit dem Volke der Blouse und des fadensichtigen Fracks wird ein Babel daraus; Alles ruft durcheinander, Keiner hört auf den Andern, Jeder sucht den Andern zu überschreien. Mit wenigen Veränderungen dauert diese Staffage der Boulevards bis zum Bastille-Platze und dem Boulevard St. Antoine fort. Hier verschwindet fast jedes andere Costum neben Blouse und Polizei-Uniform. Der Pariser aus den höhern Ständen betritt diese Gegend niemals, wenn ihn nicht ein unabweisliches Geschäft dahin führt. Unter bestaubten Bäumen haben hier die Zuckerwasserverkäufer, die fahrenden Limonadiers, Caffetiers und Obsthändlerinnen ihre Stände. Auf keinem der Boulevards ist’s übrigens so still und ordentlich; an die
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/20&oldid=- (Version vom 18.8.2025)