| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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Bastille und ihre großen Ereignisse scheint kein Mensch mehr zu denken. Und doch ist diese St. Antoine mit ihren schweigsamen Straßen, auf denen man nichts hört als die heisern Stimmen der Arbeit in den ärmlichen Häusern: das Geräusch des Webstuhls, das Knarren der Drehbank und der hundert andern Handthierungen und Beschäftigungen, – jene gefürchtete Vorstadt, welche beständig schwanger geht mit Revolutionen. Sie ist die Gewaffnete, trotz zehnmaliger Entwaffnung; die immer Schlagfertige, trotz aller Niederlagen; die beständig Bereite, um für den Aufstand die Parole zu empfangen; immer des Rufs gewärtig, auf die Barrikade zu marschiren, oder der Gewalt entgegen, um sie zu brechen, und darum von dieser immer belauscht, bespäht mit Argusaugen, decimirt bei jeder Gelegenheit, in den Kerker geworfen, exilirt, deportirt; und wiederum ist sie verzehrt von den nagenden, zwickenden Dämonen der Rache und Vergeltung, die sie beständig mahnen, eine neue Seite der Geschichte von Frankreich mit Strömen von Menschenblut zu schreiben. Wer denkt daran, bei dem lustigen Leben der Blousen und der Mouslinkleider, das hier, wie Mücken an heitern warmen Abenden, spielt und kost, daß unter dieser arglosen Decke ein Ungeheuer schlummert, welches die Traditionen der Schreckenszeit und des Bürgerkriegs von Geschlecht zur Geschlecht fortpflanzt? Wer es verstanden hat, rechtzeitig die Schwingungen dieses Geistes und dieser Traditionen in Bewegung zu setzen, ist allemal Herr von Frankreich geworden, und wenn er, als solcher, nicht wußte, die Uhr der Zeit zu stellen, so war es stets seine eigene Schuld. – St. Antoine ist an Werktagen ein Bild der Ordnung, des Fleißes, des Geschicks, der Anstrengung, der Genügsamkeit; der Löwe ist ein geduldiges Roß geworden, das für seinen Herrn, das Kapital, 6 Tage in der Tretmühle geht, leidet, fastet und sich abarbeitet, um das Stück Geld zu erhaschen, das ihm eine genußreiche Stunde gibt, in der es seine Lust austobt, bis der letzte Sou fort ist und die leere Börse und der leere Magen es zur Rückkehr an die Arbeit mahnen. Die Faubourg St. Antoine hat ein zweifaches Leben: die Arbeit und die Revolution. Sie beugt sich unter der Herrschaft der Scheere, des Hammers, der Spinnmaschine; sie hobelt, sägt, webt, reckt, modellirt, gießt, schnitzt, kleidet, färbt, bleicht, schwärzt, malt und vergoldet Alles; sie macht die Karosse der Könige und den Sarg des Guillotinirten, sie schneidet die Prachtgefäße von Krystall und dreht den irdnen Topf für die arme Witwe: aber einen Tag in jedem Jahrzehent entzündet sie sich wie eine Pulvertonne und stürzt Throne und Gesellschaft zusammen. –
Fort zum Hotel des Princes! Was ist das? Es ist das Epitom von Paris, die Pariser Welt unter einem Dache. Der glänzende Titel darf Dich nicht irren; er ist bloß das Schild für die Bel-Etage, wo sich die goldenen Salons für Fürsten und Millionärs aneinanderreihen. Wie alle Pariser Hotels, haben auch diese hohen Prachtgemächer die niedrigen Dachstuben über sich und zu ihren Füßen die dumpfigen feuchten Kellergeschosse, hinter sich aber die Höfe und Kloaken, wo jene armen Menschen wohnen, die verdammt sind, ihr Leben in verpesteten Miasmen zu verathmen. – Tritt herein! An einer Säulenhalle des Thors empfangen Dich rothsammtne Portiers, welche Tambourmajor-Stäbe
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/21&oldid=- (Version vom 18.8.2025)