| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
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Ludwig Napoleon erscheint mir wie ein Riese mit thönernen Füßen, auf dessen Schultern das schwankende Gebäude der Gesellschaft ruht ; er ist die Welle, um welche sich Eurepa’s Zukunft bewegt; er ist die Hieroglyphe des Schicksals und der Vergeltung, vor welcher die Völker und die Könige stehen und zu deren Ausdeutung sie vergeblich ihre Weisen berufen. – Fatalist wie Wallenstein, festgebannt im Kreise seiner ehrgeizigen Pläne und über die Mittel, sie zu verwirklichen, aller Skrupel baar, glaubt Ludwig Bonaparte an seinen Stern, glaubt er an den Beruf der Napoleoniden zur Weltherrschaft, glaubt er an seine Mission, und er fragt nicht darnach, ob er sie vom Teufel oder von Herrgott empfangen habe. Wie ein Schatzgräber an die geheime Gewalt der Kreuzwege glaubt, wie ein Astrolog dem Einfluß gewisser Konstellationen und Zeiten geheime Kräfte zuspricht und darnach das Gelingen oder Mißlingen seiner Handlungen zum Voraus berechnet: so ist dieser merkwürdige Mann entweder tollkühn, oder muthlos, je nachdem die Ereignisse ihn bestimmen, oder drängen, an einem Glücks- oder Unglückstage seine Streiche zu wagen. Die Drei gilt ihm als die heilige Zahl seines Glücks. Was ihm zweimal in Straßburg und Boulogne mißlang, das mußte, seinem Glauben gemäß, zum dritten Male gewißlich glücken. Und so ist es auch geschehen, und heute zieht er ein in das Kaiserhaus als unumschränkter Czar von Frankreich, keinem Gesetze unterthan, denn seinem Willen allein. Wie alle Wege nach Rom führen, so haben alle Wege Herrn Ludwig Bonaparte nach den Tuilerien geführt. Er war rother Republikaner mit Ledru Rollin, Sozialist mit Proudhon, Reformator mit Girardin; er träumte mit Cabet, war Reaktionär mit Thiers, gemäßigter Republikaner mit Gavaignac, Feind des Kapitals und der Bourgeoisie mit Louis Blanc, Gegner der Demokratie und der Revolution mit den Legitimisten, ein Bekenner der Glaubensfreiheit, wenn er vor Protestanten sprach, und ein demüthiger Verehrer, Beschützer und guter Sohn der katholischen Kirche, da es galt, die Unterstützung der Hierarchie und die Gunst der dreifachen Krone zu erlangen. Er schmeichelt dem Arbeiter mit der Hoffnung auf Verbesserung seiner Lage, tanzt mit den Damen der Halle, ladet den Sackträger zu Gast, läßt dem Bauer und dem Handwerker die Wiederkehr des goldnen Zeitalters verkündigen, verspricht ihnen Abnahme der Steuern und Schulden, peitscht die Kurse zum Jubel der Börse und zum Frommen der Schwindler und der Spieler in die Höhe, berauscht die Soldaten mit Champagner und sprudelnder Hoffnung auf Gloire und versichert dem ruhelechzenden Besitz und dem kalkulirenden Handel: l’empire c’est la paix. Er verspricht Alles und unterschreibt Alles, sagt „Ja“ zu jedem Wunsche und läßt jedem Verlangen Befriedigung hoffen; er schmeichelt dem Volke, indem er sich den Diener seines Willens nennt; er macht den ungebührlichsten Erwartungen der Menge Koncessionen, und ihren Gelüsten nach Vergnügen und Zeitvertreib bringt er die größten Opfer: aber während er dieses that, wendete er mit perfekter Menschenkenntniß jedes andere wirksame Mittel an, die indolenten Massen seinen Zwecken unterthänig zu machen, sey es durch das Brod, das er austheilen ließ, sey es durch bunten Flitter- und Zinselkram, mit dem er die Augen blendete, sey es durch
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/34&oldid=- (Version vom 20.8.2025)