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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/41

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der Ureinwohner. Diese blieben bei ihren Gewohnheiten und Gebräuchen, welche erst lange nachher, zur Zeit der Karolinger, in Schrift verfaßt und, nach den Bedürfnissen der fortschreitenden Kultur von Zeit zu Zeit geändert und mit Zusätzen vermehrt, für mehre zu Distrikten vereinigte Gemeinden als Gesetze anerkannt wurden. So ist es gekommen, daß in dem kleinen, kaum 20,000 Familien zählenden Kanton Freiburg wohl ein halbes Dutzend verschiedene Gesetzbücher oder „Ordnungen“, alle von einander abweichend, alle nur in Handschriften vorhanden, und diese im Texte gar manchmal verschieden, Gültigkeit haben, und Karls V. hochnothpeinliche Halsgerichtsordnung verrichtet noch gegenwärtig den Dienst als Kriminal-Kodex. Erst in neuester Zeit, seitdem die liberale Partei die Zügel der Regierung fest in Händen hält, wird auf die Einführung allgemeiner Gesetze für den ganzen Kanton beharrlich hingearbeitet. Das Fundament für solche hat die neue demokratische Verfassung gelegt, welche die liberale Volksmajorität durchsetzte, nachdem der Sonderbundskrieg die Macht der Klerikalen und Patrizier gebrochen hatte. Jene Verfassung hob die von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbte Stufenfolge der Stände und ihre partikularen Rechte und Unrechte auf und machte das Prinzip völliger Gleichheit aller Bürger zum Fundament des Staats. Das Wort Unterthan, daß den Landmann drückte, hat jetzt im Kanton aufgehört, und die Lehre, der Bauer sey bloß zum Beten, Arbeiten und Steuerzahlen auf der Welt, ist obsolet geworden. Der Landmann rückt nicht mehr die Mütze schon von fern, wenn er den Patrizier kommen sieht, und der Edelmann und der reiche Städter haben das stolze Benehmen gegenüber den ärmern Mitbürgern abgelegt. Der Ausdruck „Gemeine und Vornehme“ hat, staatsrechtlich, im Kanton Freiburg keinen Sinn mehr; seine Geltung hat sich in die Privatverhältnisse zurückgezogen.

Oberhalb Barberèche verläßt die Landstraße das Thal und sie steigt eine bedeutende Anhöhe hinan, auf deren Plateau den Wanderer eine Ueberraschung erwartet. Die ganze Berner Alpenwelt ist seinem Blick aufgethan in Herrlichkeit. In einem weiten Bogen, anfangend vom Genfer Seebecken, thürmen sich die Berge über und hinter einander auf, bis sie unter den nebelhaften, undeutlichen Riesengestalten der Ost-Schweiz verschwinden. Der Mittelpunkt des Panorama’s ist die kolossale Gruppe des Schreckhorns und Finsteraarhorns mit ihren Genossen, deren Hörner und Spitzen emporsteigen, als hätten sie das Himmelsgewölbe zu tragen. Kehrt dann der Blick, gesättigt vom Anschauen der erhabenen fernen Gebirgswelt, in die nähere Umgebung zurück, so hat er das lachende Bild der Anmuth und Fruchtbarkeit vor sich. Der Kanton Freiburg ist in der That ein weiter Park. Jede Höhe trägt eine Waldkrone, oder eine Burg, oder eine Kapelle, und aus jedem Thal, aus jedem Grunde schauen Klöster und Kirchen, Städtchen, Dörfer und Gehöfte behäbig herauf: an jedem Gelände ziehen weidende Heerden und rauschen Quellen und Bäche in Kaskaden und kleinen Wasserfällen herab. Und so mannichfaltig wie diese Landschaftsbilder sind, so mannichfaltig sind auch die Menschen in Gestalt, Gang, Haltung, Art, Sitte und