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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/57

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einer kleinen Minorität zu Gute kommen, und die Bildung der großen Mehrzahl nicht einmal fähig in, sie zu heben und sie so zu gebrauchen. Mußte doch unser Liebig seine diesjährigen Vorlesungen über allgemeine Chemie an der Münchener Universität (also vor einem erlesenen Publikum), mit der Bemerkung beginnen, daß er unter seiner Zuhörerschaft die Bekanntschaft mit den ersten Anfangsgründen der Naturwissenschaften kaum voraussetzen dürfe. – „Die Natur“ – sprach er, „ist wohl für die Mehrzahl von Ihnen ein mit unbekannter Schrift beschriebenes Buch. Sein Inhalt ist Ihnen verschlossen. Indem Sie darin lesen lernen wollen – lernen Sie es verstehen. Die Worte, die Zeichen, in denen sie zu Ihnen redet, sind Chiffern besonderer Art; Sie werden sie kennen lernen. Gewisse Erscheinungen, welche beim Zusammenbringen einer Anzahl von Körpern mit einander zum Vorschein kommen, sind gleichsam als das Alphabet zu betrachten – der Schlüssel, durch den wir den Sinn des Buchs entziffern können. Alle Namen von Dingen und Stoffen aber, die Sie hören werden, sind für das Verständniß ohne Werth, wenn Sie versäumen, sich mit ihrer Bedeutung bekannt zu machen“.

Und dennoch ist, seitdem die Menschheit lebt, nicht im Entferntesten ein solcher Eifer und Wetteifer für Erlangung naturhistorischer Kenntnisse bemerkbar gewesen, und kaum wird es noch einen Gebildeten geben, welcher das Bedürfniß dafür nicht täglich lebhaft fühlt. Mögen immerhin die Geister der Finsterniß fortfahren, die Verbreitung naturwissenschaftlicher Begriffe im Volke zu verdammen; mögen sie immerhin in dem Geiste, welcher einst Galilei, der Lehre wegen, daß die Erde sich bewege, in den Kerker warf und mit dem Scheiterhaufen bedrohete, gegen das Licht der Forschung im Reiche der Schöpfung wüthen: – ihr Versuch, es auszulöschen, wird nicht gelingen. Der Tag kann nicht mehr sehr entfernt seyn, wo selbst das Kind, auf dem Wege der Anschauung, die großen Gesetze des Weltalls, diesen Spiegel des alleinigen Gottes, begreifen wird, und wo jeder Volksschullehrer seinen Schülern diese Gesetze experimentirend erklärt. Das nächste Jahrhundert wird in jeder Schulstube physikalische Apparate aufgestellt sehen, wo jetzt nur Eselsbank und Rechentafel zu finden sind, und an der Stelle des geistestödtenden, mechanischen Gedächtnißwerks, welches die Seele der Kinder verdunkelt und die edelsten Anlagen im Keime zu zerstören trachtet, wird der Lehrer bemüht seyn, das kindliche Nachdenken durch die Resultate der empirischen Naturforschung auf die Brücke des Glaubens und zur wahren Erkenntniß Gottes zu leiten. Ich sehe den Volksschullehrer des 20. Jahrhunderts, wie er die Gravitation, indem er sie auf Gasgemenge einwirken macht, als jenen ersten Impuls erkennen läßt, welcher das göttliche „Werde!“ bezeichnet. Ich sehe, wie durch ein weiteres Experiment vor den Augen der Schüler die Gasballen nach jenem ersten Anstoß, den sie erhalten, wirbeln und kreisen in gesetzmäßiger Weise: wie sie sich drehen in Linien, ausgehend von gewissen Punkten, als vielfach gewundene Kurven, als Epicyklen, Parabeln, Ellipsen – gleich den Embryonen der Welten und Gestirne. „Seht, Kinder“,