| Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band | |
|
|
getränkt, und der Staub, den der Wanderer von den Füßen schüttelt, ist Staub von Helden und er erzählt ihm von Kämpfen und Thaten. Wenn du Geister zu beschwören verstehst, so steigen die Rhätier, die Cimbern und Teutonen, die Vandalen und Gothen, die nach einander diese Straße zogen und am Thore Italiens unzählige Schlachten schlugen, aus ihren Gräbern, du hörst das Rauschen ihrer Waffen, das Brüllen ihres Kriegsgesangs, das Rasseln ihrer Streitwagen. Wie viel Verwünschungen ruhen auf diesen Feldern, der Wahlstatt so vieler Völker; wie viel Thränen sind da geflossen, wie viel Greuel hat der von roher Herrsch- und Habsucht besessene Mensch da verübt! Du siehst den Marius, den Sulla, den Cäsar, die Fürsten und Feldherren Roms an der Spitze ihrer Legionen ziehen, du siehst in’s Sklavenjoch geschmiedete Völker vorüberführen, damit sie den Einzug ihrer Ueberwinder durch die Siegesthore der ewigen Stadt verherrlichen, oder in der Arena die wollüstige Grausamkeit der entarteten Quiriten befriedigen.
Hinweg, hinweg, blutige Schatten! Besser, daß wir dem harmlosen Antiquare folgen. Hart am Wege von Aosta zeigt er uns zuerst die Trümmer eines Grabmals. Uebersponnen mit Epheu und wildem Wein, guckt das graue Gemäuer kaum kenntlich aus der Blätter- und Blüthenfülle des wilden Rosenbusches und auch der Name wäre verschollen, wenn nicht der Alterthümler aus der verwitterten Zuschrift einen Publius, der eine Legion geführt, herausbuchstabirt hätte. Dann führt er uns auf die Bergzinne zu der alten vierthürmigen Veste Castellazzo. An ihrem Fuße, wo ein Paar Säulenstücke, von Brombeerranken umschlungen, unter der grünen Rasendecke hervorschauen, stand ein Tempel der Juno. So sagt unser Begleiter; aber statt der jauchzenden Menge, die dem Priester mit dem bekränzten Stier und den Schalen und Opfergefäßen nachfolgt – bläst ein verkrüppelter Hirtenknabe auf der Schalmei einer Heerde weidender Ziegen, und vor der mißgeschaffenen Zwerggestalt, die uns anbettelt, fliehen die Geister der großen Vergangenheit.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band. Bibliographisches Institut, [Hildburghausen] [1852], Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_15._Band_1852.djvu/68&oldid=- (Version vom 24.8.2025)