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Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/77

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DCLXXVI. In der Halle der Repräsentanten zu Washington.




In der alten Welt wogt der Meinungskampf um Principien. Die Vertheidiger der Volksrechte stehen beständig den Vertheidigern des sogenannten göttlichen Rechts, die Grundsätze der Selbstregierung jenen der fürstlichen Alleinherrschaft, die Wortführer einer aus freier Wahl hervorgegangenen Exekutive jenen der erblichen Familiengewalt gegenüber. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hingegen ist der Principienstreit längst beendigt. Durch die Revolution hat die Demokratie vollständig gesiegt. Jedermann steht auf dem Boden der unbedingten Volkssouveränität: seit 1789 anerkennen alle Parteien ohne Ausnahme den Volkswillen als die einzige berechtigte Quelle aller und jeder Staatsgewalt.

Gerade diese unbestrittene und vollkommene Volksfreiheit macht die große Republik zur Arena für das Parteiwesen. Da ebbet’s und fluthet’s, da braust’s und stürmt’s ohne Unterlaß; aber die Stürme sind nicht zerstörend, sie verwüsten und plündern nicht das Land, sie tränken die Straßen der Städte nicht mit Bürgerblut, sie bevölkern nicht die Kasematten und Galgen. Statt der Guillotine stellt man in Amerika die Stimmurne auf; statt der Standgerichte die Wahlausschüsse, und wird einer Partei von der andern der Hals abgeschlagen, so hören die Exekutirten darum nicht auf, sich des physischen und politischen Lebens zu erfreuen. In der heißesten Wahlschlacht fließt kein Tropfen Bürgerblut und der Besiegte räumt das Feld mit fliegenden Fahnen; er wartet zu, bis die Reihe zum Siegen wieder an ihn komme, denn er weiß, jede neue Wahl gibt dem Ueberwundenen neue Chancen. Keine Partei kann aber im bürgerfreien Staate durch ein anderes Mittel auf einen Triumph rechnen, als dadurch, daß sie die Gegner überstimmt, und darum wird ihre Thätigkeit beständig darauf gerichtet seyn, so viele Stimmen als möglich zu sammeln und zu werben. Die Gesetze gestatten dies durch die unbeschränkte Uebung des Vereinsrechts, daß Jeder nach seinem Belieben benutzt; denn in der Union weiß man nichts von politischer Abhängigkeit. Jeder folgt unbefangen seiner Ueberzeugung, macht dafür Propaganda und stützt sich dabei auf die Partei, welche sie ausdrückt. Ein Amerikaner ohne politische Partei ist gar nicht zu denken. Jeder hat eine und folgt ihrer Fahne.