Zum Inhalt springen

Seite:Meyers Universum 15. Band 1852.djvu/85

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

Weise an den Verfassungen herumexperimentirt wird, welche zeigt, daß noch gar kein fester Boden vorhanden ist, auf welchem irgend wer sich wohl oder sicher fühlen könnte. –

Und nun schüttele den Staub von Deinen Füßen und lasse es Dir gefallen, daß ich Dich in das Kapitol und in die Halle der Repräsentanten führe, wo zwar kein Thronsessel, aber ein Altar der Freiheit steht, an dem die Weisen und Helden, ein Washington, Franklin, Jefferson und Madison als Oberpriester dienten.

Die allgemeine Beschreibung des Kapitols, von der äußern Ansicht desselben begleitet, ist im 1. Bande meines Buchs (S. 57) zu lesen. Die Repräsentantenhalle befindet sich im südlichen Flügel. Es ist ein halbkreisförmiger Saal mit gewölbter Decke, der sein Licht durch eine Reihe hoher Bogenfenster empfängt. Im Fond des Halbzirkels befinden sich die Bänke der Volksboten. Sie sind gegen die Tribüne des Sprechers (des Präsidenten) gerichtet, vor der eine Tafel steht, an welcher die Sekretäre sitzen. Hinter der Tribüne, und zur Seite derselben, getragen von Säulen korinthischer Ordnung, ist die Gallerie der Zuhörer.

Wir steigen die Freitreppe am östlichen Portico hinan. Noch hat die Sitzungsstunde nicht geschlagen. Wir haben Zeit, die Aussicht von der Platform zu genießen. Zu unsern Füßen ist der Kapitolplatz (Capitol-Square) mit seinen großen Gebäuden, und aus dessen Mitte läuft in schnurgerader Richtung die prächtige Kapitolstraße 2 Meilen lang fort, während nach rechts und links, fächerförmig, andere Straßen ausgehen. Die prächtigsten derselben sind die Avenuen von Pennsylvanien und Maryland, welche, bei einer Breite von 150 Fuß und einer Länge von mehren Meilen, mit den schönsten Anlagen in Paris, Berlin und Petersburg wetteifern können. Der Potomac, welcher seine Wogen seeartig ausbreitet, bespült die Stadt in Ost und Süd, und jenseits der spiegelnden Fluth findet das Auge einige mit Landhäusern und Gartenanlagen bedeckte Hügel als Ruhepunkte, nordwärts aber umrahmen die blauen Gebirge von Blue-Ridge die Vista. Breite Kanäle durchziehen die Stadt und tragen Boote und Schiffe. Die Eisenbahn von Baltimore mündet auf der Pennsylvania-Avenue unweit des Kapitols und fünfzehn Telegraphendrähte, die nach allen Richtungen fortgehen, sind beständig in Bereitschaft oder in Thätigkeit, um an das Ohr des Volks jedes bedeutende Wort zu tragen, welches aus dem Munde seiner Boten geht. Das ungeheure Gebiet der Freistaaten hat im Kapitol den föderalistischen Mittelpunkt. Hier ist der Hauptsitz des Gesammtlebens, hier fühlt man seinen Herzschlag und hier wird die Einfachheit eines Staatsorganismus klar, der seine Festigkeit, Dauer, Zweckmäßigkeit und Lebenskraft über jegliche Erwartung bewiesen hat.

Die Zeit der Sitzung kommt heran und die Scene wird belebter. Es sind meistens ältere Herren, in gewöhnlicher anspruchsloser Kleidung, welche die Freitreppe des östlichen Portals hinaufsteigen und durch die Pforte, welche zur großen Rotunde führt, ins Innere treten. Die meisten kommen zu Fuß, andere in Fiakern, manche auch in einspännigen Cabs, die sie selbst führen. Man sieht keine Karossen mit buntfarbigen Wappenschildern und goldgestickten