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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 11

(oder arischen) Stamm gehörigen Völker. Sie ist eine Tochter der vergleichenden Sprachwissenschaft. Zwar hatte sich schon vor 100 Jahren der englische Orientalist William Jones viel mit Mythenvergleichung abgegeben, aber diese bestand nur in einer kritiklosen Zusammenstellung indischer Mythen mit denen andrer arischer oder semitischer Völker. Als der eigentliche Vater der vergleichenden M. ist (von dem oben genannten Buttmann abgesehen) Adalbert Kuhn, ein Schüler Bopps, des Vaters der vergleichenden Sprachwissenschaft, anzusehen, obwohl darüber nie zu vergessen ist, daß bereits Jakob Grimm sehr gute Blicke in das Wesen der vergleichenden M. gethan hat. Außer zahlreichen Aufsätzen in der „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“, der „Zeitschrift für deutsches Altertum“, „Zeitschrift für deutsche M.“, den „Abhandlungen der Berliner Akademie“ (1873) etc. sind von ihm besonders zu nennen: „Zur ältesten Geschichte der indogermanischen Völker“ (Berl. 1845) und „Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks“ (das. 1859; wiederholt in den „Mythologischen Studien“, Bd. 1, Gütersloh 1886). In ähnlichem Sinn, wenn auch mit Unterschieden im einzelnen, haben gearbeitet: Max Müller („Essays“, Bd. 2: „Beiträge zur vergleichenden M. und Ethnologie“, Leipz. 1869; „Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft“, Straßb. 1874); F. L. W. Schwartz („Der Ursprung der M.“, Berl. 1860; „Die poetischen Naturanschauungen der Griechen, Römer und Deutschen“, das. 1864–79, 2 Bde.; „Indogermanischer Volksglaube“, das. 1885); Mannhardt („Wald- und Feldkulte“, das. 1875–1877, 2 Bde.; „Klytia“, das. 1876; „Mythologische Forschungen“, Straßb. 1884); Bréal („Mélanges de mythologie et de linguistique“, Par. 1877); Benfey, Cox, E. H. Meyer („Indogermanische Mythen“, Bd. 1 u. 2, Berl. 1883–87) u. v. a.

Wie die vergleichende Grammatik die Sprachen der Indogermanen oder Arier (Inder, Perser, Griechen, Italer, Kelten, Germanen, Slawen und Letten) untersucht, um die von diesen Völkern gemeinsam gesprochene Grundsprache zu rekonstruieren, so geht die vergleichende M. oder Religionswissenschaft den Mythen dieser Völker nach, um die religiösen Vorstellungen und Gebräuche, den Glauben und Kultus der indogermanischen Urzeit zu erforschen. Für diese Rekonstruktion der indogermanischen Religion liefert die M. eines jeden der stammverwandten Völker Bausteine; keine aber sind gewichtiger als die der indischen M., wie sie namentlich in den heiligen Liedern derselben, den Wedas, niedergelegt sind. Denn wenigstens einem großen Teil dieser Lieder ist unter allen Urkunden des indogermanischen Geistes das höchste Alter zuzusprechen; vielfach zeigen sie das Volk noch ganz auf der Stufe der indogermanischen Einheit, d. h. auf der Stufe des Nomadenlebens mit Anfängen des Ackerbaues, der Viehzucht und eines Gemeindewesens. Die Mythen sind daher hier noch am durchsichtigsten, ja selbst die Erklärer der Wedas haben sich vielfach noch das Verständnis der in ihnen vorkommenden mythischen Redeweisen bewahrt. Überdies sind sie in verhältnismäßig treuer Gestalt überliefert. Nächst diesen erweisen sich die griechischen und germanischen Mythen für die oben bezeichnete Rekonstruktion der arischen Religion am ergiebigsten. Wer sich nun an die Vergleichung der Mythen dieser Völker macht, nimmt eine solche Übereinstimmung oft gerade bis in die unscheinbarsten Nebendinge oder in die aufallendsten Details hinein wahr, daß er sich des Gedankens entschlagen muß, diese Übereinstimmung auf psychologischem Weg daraus erklären zu können, daß unter ähnlichen Umständen allezeit ähnliche Mythen entstehen. Ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel für die Rekonstruktion der indogermanischen Religion bietet aber auch die Ethnologie, insofern sie von dem religiösen und sittlichen Zustand andrer noch auf gleicher oder ähnlicher Stufe befindlicher Völker Kunde gibt.

Was war es nun, was zuerst die religiösen Empfindungen und deren Äußerungen bei den Indogermanen anregte? Die Untersuchung der Götternamen und Göttersagen bei den verwandten Völkern gibt in Übereinstimmung mit der Ethnologie darauf die Antwort, daß dies die Vorgänge in der Natur waren: die Erscheinungen der Sonne und des Mondes, der Morgen- und Abendröte, des Blitzes und Donners, des Sturmes und Windes. Die Menschen fühlten sich abhängig von der Macht dieser Naturerscheinungen und stellten sich diese Naturwesen belebt und zwar, ihrer kindlich-naiven Anschauung folgend, als Wesen wie sie selbst oder wie die Wesen ihrer Umgebung, nur, den Wirkungen entsprechend, mit übermenschlicher Kraft ausgestattet vor. Erst als ihnen der Unterschied zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Geist und Körper aufging, trennten sie den Gegenstand selbst von dem in ihm lebenden Träger oder Urheber der Wirkung, z. B. den Sonnenkörper von dem Sonnenlenker. Alles, was in der Natur vorging, schauten sie im Spiegel ihres eignen Lebens. Die Naturkörper benannten sie nach gewissen Ähnlichkeiten mit den Namen der Gegenstände ihres eignen Lebens. Wie das Leben der Menschen auf jener Stufe ein nur von natürlichen, nicht von sittlichen Prinzipien getragenes war, so ließen sie auch die Naturgötter rein nach natürlichen Trieben, nicht mit sittlichem Bewußtsein handeln. Daher begegnet uns in den aus dieser Zeit mit herübergenommenen Redeweisen vieles, was einer in sittlicher Beziehung fortgeschrittenen Zeitanschauung nicht nur absonderlich, sondern geradezu ungeheuerlich und abstoßend erscheint. Zwar blieb der sittliche Fortschritt nicht ohne Einfluß auf die Vorstellungen von den Göttern, insofern auch diese allmählich mehr und mehr in sittlicher Beziehung vervollkommt wurden; aber alle jene uralten Züge von natürlicher Roheit zu verwischen, ist keinem Fortschritt gelungen. Obwohl jedoch die vergleichende M. nicht nur den Glauben an „Dyaus“, den Himmel, als den höchsten Gott, sondern auch noch eine beträchtliche Summe andrer religiöser Vorstellungen als indogermanisches Eigentum erwiesen hat, so stellt sich doch ebenso zweifellos heraus, daß die Periode der Mythenbildung mit dem Eintritt der Trennung der arischen Völkerfamilie nichts weniger als abgeschlossen gewesen ist, daß dieselbe vielmehr, nur in andern Formen, stetig fortgeschritten ist. Mit Recht erkennt es daher die Wissenschaft der M. in neuester Zeit als ihre Aufgabe, die verschiedenen Mythenschichten zu scheiden und die Frage nach ihrem Eintritt und Alter aufzuwerfen. Mithin wird es auch fortgesetzte Aufgabe der Wissenschaft bleiben, sich in die M. jedes einzelnen der stammverwandten Völker zu versenken, und dieser Zweig der Forschung wird durch die Mythenvergleichung in keiner Weise beeinträchtigt, im Gegenteil gefördert. Aber auch noch eine besondere Art der Mythenvergleichung muß Platz greifen. Es steht nämlich fest, daß die Trennung der acht arischen Völker nicht mit einemmal, sondern allmählich und gruppenweise erfolgt ist, wenn auch über das Wie und Wann der Trennung bei weitem noch keine

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 11. Bibliographisches Institut, Leipzig 1888, Seite 960. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b11_s0960.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2021)