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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

[Zum Artikel „Reichstag“.]

Geschäftsordnung des deutschen Reichstags.
I. Vorstand des Reichstags.

Nach der revidierten Geschäftsordnung vom 10. Febr. 1876 treten bei dem Eintritt einer neuen Legislaturperiode die Mitglieder des Reichstags zunächst unter dem Vorsitz ihres ältesten Mitglieds (des Alterspräsidenten) zusammen, welch letzterer dies Amt auf das ihm im Lebensalter zunächst stehende Mitglied übertragen kann. Zur Präsidentenwahl wird geschritten, sobald das Haus beschlußfähig, d. h. die Mehrheit (199) der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder (397) anwesend ist. Es werden ein Präsident und zwei Vizepräsidenten sowie acht Schriftführer gewählt. Für das Kassen- und Rechnungswesen ernennt der Präsident zwei Quästoren. Der Präsident hat die Konstituierung des Reichstags und die Zusammensetzung des sogen. Büreaus dem Kaiser anzuzeigen. Die 3 Präsidenten, 8 Schriftführer, 2 Quästoren und die 7 Vorsitzenden der Abteilungen (s. Ziffer II) bilden den Gesamtvorstand des Reichstags. Die Wahl der Präsidenten erfolgt nach absoluter, die der Schriftführer nach relativer Stimmenmehrheit. Hat sich im erstern Fall eine absolute Majorität nicht ergeben, so sind diejenigen fünf Kandidaten, welche die meisten Stimmen erhalten hatten, auf eine engere Wahl zu bringen; nötigen Falls ist auch noch eine zweite engere Wahl zwischen denjenigen beiden Kandidaten, welche alsdann die meisten Stimmen erhielten, vorzunehmen, und im Notfall muß das Los entscheiden. Die Präsidenten werden beim Anfang der Legislaturperiode das erste Mal nur auf vier Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Session gewählt; in den folgenden Sessionen einer Legislaturperiode erfolgt die Wahl sofort für die ganze Dauer der Session. Dem Präsidenten liegt die Leitung der Verhandlungen, die Handhabung der Ordnung und der Vertretung des Reichstags nach außen ob; er hat auch das Recht, den Sitzungen der Abteilungen und Kommissionen mit beratender Stimme beizuwohnen. Er beschließt über die Annahme und Entlassung des Verwaltungs- und Dienstpersonals sowie über die Ausgaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichstags. Der Präsident eröffnet und schließt die Plenarsitzungen und verkündigt Tag und Stunde der nächsten. Ihm liegt es ferner ob, mit zwei Schriftführern das Protokoll jeder Sitzung zu vollziehen. Will er sich an der Debatte beteiligen, so muß er den Vorsitz so lange abtreten. Er ist ferner berechtigt, die Redner auf den Gegenstand der Verhandlung zurückzuweisen und zur Ordnung zu rufen. Ist das eine oder das andre in der nämlichen Rede zweimal ohne Erfolg geschehen, und fährt der Redner fort, sich vom Gegenstand oder von der Ordnung zu entfernen, so kann die Versammlung auf Antrag des Präsidenten, und nachdem der Redner von jenem auf diese Folge aufmerksam gemacht worden, demselben das Wort entziehen. Bei allen Diskussionen erteilt der Präsident demjenigen Mitglied das Wort, welches nach Eröffnung der Diskussion oder nach Beendigung der vorhergehenden Rede zuerst darum nachsucht. Doch kann sofortige Zulassung zum Wort nur verlangt werden, wenn der Redner „zur Geschäftsordnung“ sprechen will. Persönliche Bemerkungen sind am Schluß der Debatte oder im Fall der Vertagung am Schluß der Sitzung, thatsächliche Ausführungen aber alsdann überhaupt nicht mehr zulässig. Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so ist es vom Präsidenten mit Nennung des Namens darauf zurückzuweisen. Das betreffende Mitglied kann hiergegen schriftlich Einspruch thun, worauf der Reichstag in der nächstfolgenden Sitzung und ohne Diskussion darüber entscheidet, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war. Ferner kann der Präsident, wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht, die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz aufheben. Kann er sich in solchem Fall kein Gehör verschaffen, so bedeckt er sich das Haupt, womit die Sitzung auf eine Stunde unterbrochen ist. Sodann steht dem Präsidenten die Handhabung der Polizei im Sitzungsgebäude zu, er kann einzelne Ruhestörer von der Tribüne entfernen oder dieselbe ganz räumen lassen. Der Präsident ist befugt, Reichstagsmitgliedern bis zu acht Tagen Urlaub zu geben. Endlich ist derselbe jedesmaliger Vorsitzender der behufs Einreichung einer Adresse an den Kaiser zusammentretenden Kommission, auch Mitglied und Sprecher einer jeden Deputation. Die Schriftführer haben für die Aufnahme des Protokolls und den Druck der Verhandlungen zu sorgen, daher auch die Revision der stenographischen Berichte zu überwachen. Sie lesen die Schriftstücke vor, halten den Namensaufruf, vermerken die Stimmen etc.

II. Wahlprüfung.

Das erste Geschäft des Reichstags soll die Prüfung der Wahlen sein. Zu diesem Zweck wird die Versammlung durch das Los in sieben Abteilungen von möglichst gleicher Mitgliederzahl geteilt, welchen wiederum eine möglichst gleiche Zahl der einzelnen Wahlverhandlungen durch das Los zuzuteilen ist. Findet die Abteilung ein wesentliches Bedenken, oder liegt eine Wahlanfechtung oder von seiten eines Reichstagsmitglieds Einsprache vor, so ist der Sachverhalt dem Reichstag zur Entscheidung vorzulegen. Wahlanfechtungen und Einsprachen, welche nach Ablauf von zehn Tagen von Eröffnung der Session, resp. bei Nachwahlen von Feststellung des Wahlergebnisses an erhoben werden, bleiben unberücksichtigt. Von der Abteilung sind die Wahlverhandlungen, wenn eine rechtzeitig erfolgte Wahlanfechtung oder Einsprache vorliegt, oder wenn von der Abteilung die Gültigkeit der Wahl durch Mehrheitsbeschluß für zweifelhaft erklärt wird, oder wenn 10 anwesende Mitglieder der Abteilung einen aus dem Inhalt der Wahlverhandlungen abgeleiteten, speziell zu bezeichnenden Zweifel erheben, an eine im besondere Wahlprüfungskommission von 14 Mitgliedern abzugeben. Findet die Abteilung sonstige erhebliche Ausstellungen, ohne daß die Voraussetzungen für Abgabe an die Wahlprüfungskommission vorliegen, so ist von der Abteilung an den Reichstag selbst Bericht zu erstatten. Bis zur Ungültigkeitserklärung einer Wahl hat der Gewählte Sitz und Stimme im Reichstag.

III. Kommissionen.

Außer den Wahlprüfungen liegt den Abteilungen die Wahl der Kommissionen ob, welche zur Vorberatung der an den Reichstag gelangenden Sachen bestimmt sind, sofern eine solche Vorberatung erforderlich. Jede Abteilung wählt durch Stimmzettel eine gleiche Anzahl von Mitgliedern der Kommission. Besteht diese aus 7 Mitgliedern, so wählt jede Abteilung ein Mitglied, während je 2, 3 oder 4 Mitglieder zu wählen sind, je nachdem die Kommission aus 14, 21 oder 28 Mitgliedern bestehen soll. Thatsächlich werden übrigens die Mitglieder der Kommissionen von den Fraktionen, den Parteigenossenschaften des Reichstags, erwählt, indem durch den sogen. Seniorenkonvent, der aus den Vertrauensmännern der einzelnen Fraktionen besteht, im voraus festgesetzt ist, wieviel Mitglieder eine jede Fraktion jeweilig in die Kommissionen entsenden soll. Die Wahl durch die Abteilungen ist daher in der That nur eine leere Form. Außer der Petitions- und der Wahlprüfungskommission werden noch Kommissionen für den Reichshaushaltsetat (Budgetkommission), für die Rechnungslegung (Rechnungskommission) und überhaupt nach Maßgabe des Bedürfnisses, so oft ein Gesetzentwurf oder ein sonstiger Antrag vom Reichstag an eine Kommission verwiesen wird, konstituiert. Die Kommissionen wählen ihren Vorsitzenden und ihren Schriftführer aus ihrer Mitte; sie sind beschlußfähig, sobald mindestens die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Wird einer Kommission die Vorberatung eines von einem Reichstagsmitglied gestellten Antrags überwiesen, so nimmt der Antragsteller, resp. das unter dem Antrag zuerst unterzeichnete Mitglied jedenfalls mit beratender Stimme an den Kommissionssitzungen teil. Die Mitglieder des Bundesrats und die Kommissare desselben können diesen Sitzungen ebenfalls mit beratender Stimme beiwohnen. Nach geschlossener Beratung wählt die Kommission aus ihrer Mitte einen Berichterstatter, der die Ansichten und Anträge der Kommission in einem Bericht für den Reichstag zusammenstellt. Die Kommissionen sind aber auch befugt, durch ihren Berichterstatter mündlichen Bericht im Plenum des Reichstags erstatten zu lassen. Doch kann der Reichstag in solchen Fällen schriftlichen Bericht verlangen und zu diesem Behuf die Sache an die Kommission zurückverweisen.

IV. Verhandlungen im Reichstag.

Eine bestimmte Reihenfolge in der Beratung der einzelnen Gegenstände ist nicht vorgeschrieben; insbesondere besteht die Vorschrift, welche sich in andern Verfassungsurkunden findet,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 688a. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0688a.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2022)