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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

des savoyischen Vikars; hier bekennt R. in herrlicher Sprache das tiefe Bedürfnis eines wahren, natürlichen Gefühls nach Religion, nach dem Gotte, dessen Allmacht und Größe seine Werke jeden Tag aufs neue verkünden. Der ungeheure Einfluß, den dieses Buch, das Naturevangelium der Erziehung, wie es Goethe nennt, auf die Zeitgenossen ausübte, ging weit über Frankreichs Grenzen hinaus; Pestalozzi sucht und findet seinen Ruhm in der praktischen Durchführung von Rousseaus Ideen, ohne indes seinen Maßlosigkeiten und Absonderlichkeiten zu folgen. Wie diese beiden Schriften der Afterbildung der Zeit das Ideal wahrer Bildung gegenüberstellen, so versuchen die „Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen“ und der „Gesellschaftsvertrag“ die soziale Frage zu lösen. Das erstere Werk unterzieht die bestehenden sozialen Verhältnisse einer vernichtenden Kritik. Weil die Zivilisation den Menschen unglücklich mache, so müsse man zu einem Naturzustand zurückkehren, der dem der Wilden, ja dem der Tiere möglichst gleichkomme. Aus dem Begriff des Eigentums habe sich die Ungleichheit entwickelt, aus der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz die Regierung, aus der Erblichkeit der Regierung der Despotismus und die Entartung. Aber ein Despot sei nur so lange Herr, als er die Macht habe, und die Revolution, welche einen Herrscher vernichte, sei ebenso gerechtfertigt wie das Schalten und Walten des Herrschers über Leben und Eigentum seiner Unterthanen. Diesen leidenschaftlichen, oft unrichtigen und meist übertriebenen Deduktionen gegenüber entwickelt er im „Contrat social“ die Grundsätze seines politischen Systems. Die ersten Worte: „Der Mensch ist frei geboren“, bilden den Grundtext des ganzen Buches. Seine Freiheit gibt der Mensch nicht auf, wenn er eine Gesellschaft, einen Staat bildet; darum ist die Gesellschaft allein der Souverän, der Gesamtwille das höchste Gesetz. Der Zweck aber der Gesetze ist Freiheit und Gleichheit. Das Merkwürdigste ist, daß er seiner Republik eine Staatsreligion verleiht, und daß er Andersgläubige verbannt, Abtrünnige mit dem Tod bestraft wissen will. Wie diese Theorien sich in der Praxis ausnehmen, zeigten der Konvent und Robespierre; ein viel höherer Grad von Tyrannei war die notwendige Konsequenz solcher Lehren. Der „Contrat social“ hatte einen großartigen Erfolg: der französischen Revolution diente er als Grundbuch; Polen und Corsen stellten an R. die Anforderung, ihnen Verfassungen zu geben. Aber das Geheimnis dieses Erfolgs liegt nicht bloß in der Kühnheit der Ideen, sondern vor allem in der vollendeten Form, dem prophetischen Ton, der Sicherheit seiner Logik, der Heftigkeit seiner Angriffe. Nicht geringen Widerhall in den Herzen der Jugend, besonders auch der deutschen, fand die „Neue Heloise“. Hier zeigt er sich als wahrer Dichter, nicht bloß in den Naturschilderungen, die, wie diejenigen der „Confessions“, von bestrickendem Zauber sind, sondern hauptsächlich in der Darstellung einer tiefen, echten Liebe, der zartesten Empfindung und der glutvollsten Leidenschaft. Juliens Fehltritt aber ist nicht nur unmoralisch, sondern stört auch die Harmonie des Werkes, und wenig gelungen ist die moralisierende Fortsetzung des Romans. – So sprach R. es aus, was aller Herzen bewegte, machte sich zum Anwalt des geknechteten, hungernden Volkes gegenüber dem Häuflein, dem die Geburt bestimmte, in Überfluß zu schwelgen, verteidigte kühn die Rechte des gesunden, natürlichen Gefühls gegen den kalten, zersetzenden Verstand des philosophischen Jahrhunderts, verkündete begeistert die Größe Gottes gegenüber dem flachen Materialismus der Encyklopädisten und zwar mit einer Siegesgewißheit, daß er alles mit sich fortriß. Nicht bloß der französischen Revolution, auch der Sturm- und Drangperiode der deutschen Dichtung war er der geistige Führer. Und wenig schadete es, daß er fast überall durch Übertreibungen, Trugschlüsse und Widersprüche seine Resultate kompromittiert hat: alle Bedenken schwanden vor der elementaren Gewalt seiner Offenbarungen.

Unter den zahlreichen Gesamtausgaben der Werke Rousseaus heben wir hervor: die von Du Peyron besorgte (Genf u. Par. 1782, 35 Bde.), mit den „Œuvres posthumes“ (1782–83, 12 Bde.); die von Villenave und Depping (1817, 8 Bde.); von Musset-Pathay, mit Biographie und Anmerkungen (1823–1826, 23 Bde.); von Hachette (1865, 13 Bde.). Von deutschen Übersetzungen nennen wir die von Cramer (Berl. 1786–99, 11 Bde.) und die von Ellissen, G. Julius, K. Große, Marx etc. (Leipz. 1843–45, 10 Bde.). Einen Band „Lettres inédites“ gab Bosscha (Amsterd. 1858) heraus, einen andern Streckeisen-Moulton (1861, dann in „R., ses amis et ses ennemis“, 1865, 2 Bde.); „Fragments inédits“ veröffentlichte Jansen (Berl. 1882). Eine Sammlung der Lieder und Romanzen Rousseaus erschien unter dem Titel: „Les consolations des misères de ma vie“ (1781). Eine gute Biographie Rousseaus fehlt. Die interessantesten Studien über ihn schrieb Saint-Marc Girardin in der „Revue des Deux Mondes“ 1852–56 (von Bersot herausgegeben: „J. J. R., sa vie et ses ouvrages“, 1875, 2 Bde.). Vgl. außerdem die Biographien von Morin (Par. 1851), Brockerhoff (Leipz. 1863–74, 3 Bde.), Th. Vogt (Wien 1870), John Morley (2. Aufl., Lond. 1886), Gehrig (2. Aufl., Neuwied 1889); ferner E. Schmidt, Richardson, R. u. Goethe (Jena 1875); Desnoiresterres, Voltaire et R. (Par. 1874); Moreau, J. J. R. et le siècle philosophe (das. 1870); Ritter, La famille de R. (Genf 1878); Borgeaud, Rousseaus Religionsphilosophie (Leipz. 1883); Jansen, R. als Musiker (Berl. 1884); Derselbe, R. als Botaniker (das. 1885).

3) Philippe, franz. Maler, geb. 1808 zu Paris, erlernte die Malerei unter Gros und Victor Bertin, widmete sich anfangs der Landschaft und trat 1831 mit einer Partie aus der Auvergne auf, der dann andre Landschaften aus der Normandie folgten, bis er um 1840 zum Tiergenre überging, wobei er die Tierwelt oft in komische Beziehung zum Stillleben brachte. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: die Katze und die alte Ratte, der Maulwurf und das Kaninchen (1846), Früchte und Wildbret (1848), der Zudringliche (1850, im Luxembourg), die einsame Ratte (1851), ein Storch, der Siesta hält (1855), der Affe als Photograph (1866). Später widmete er sich ganz dem Stillleben, in welchem er eine koloristische Gewandtheit erreichte, die sowohl Kunstgegenstände, Kleinodien u. dgl. als auch Früchte, Geräte etc. mit höchster Vollendung wiedergab. Er starb 5. Dez. 1887 in Paris.

4) Théodore, franz. Maler, Bruder des vorigen, geb. 15. April 1812 zu Paris, Schüler von Rémond und Guillon-Lethière, bildete sich aber mehr durch Studien nach der Natur und den niederländischen Landschafts- und Tiermalern und durch Reisen nach der Auvergne und der Normandie zu einem Maler aus, welcher das Hauptgewicht auf die Stimmung legte und der französischen Landschaftsmalerei eine neue, noch heute herrschende Richtung gab. Er begründete die Gattung der Paysage intime, welche die Motive zu ihren Bildern vornehmlich dem Wald von Fontainebleau entlehnt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 1014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s1014.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2023)