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Seite:Meyers b15 s0214.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 15

Sind die Städte schon infolge davon in politischer und wirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend, daß in denselben das gesamte geistige Leben und der menschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihr Einfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weiter gesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eine Reihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oder doch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und die vollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten der modernen Technik möglich wurde. So werden in unsern Millionenstädten großartige Aufwendungen gemacht im Interesse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit, für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung, Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen, Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staaten weit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: „Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten“ ganz vorzüglich von den Städten, insbesondere von Großstädten, in welchen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann.

Städteverfassungen.

In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sich gegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systeme gegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß an die preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov. 1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß die Verfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene, und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltung eingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An der Spitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in der Regel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretung der Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seite steht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat (Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem ersten Bürgermeister (Stadtschultheißen), welcher in größern Städten den Titel Oberbürgermeister führt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten und in größern Städten aus einer Anzahl von besoldeten und unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen, Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nach Bedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitglieder für einzelne Zweige der städtischen Verwaltung (Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat ist das Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch die Handhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchen größern Städten, einer staatlichen Behörde (Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. Die Vertretung der Bürgerschaft ist die Stadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischer Ausschuß, Kollegium der Bürgervorsteher, Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). Diese Körperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung ist zur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigen Akten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß von Ortsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihre Funktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch die Bürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in der Regel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teils besoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeistern in den größern Städten gilt, teils fungieren sie im Ehrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bis sechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgt sie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeit zulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat die Regierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedoch verschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischen Magistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im Osten Deutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in den östlichen Provinzen Preußens und in den Provinzen Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnung vom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischen Städte von den beengenden Fesseln einer weitgehenden staatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierte Städteordnung vom 17. März 1831, welche die Möglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungen treffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch, die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weise zu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 für die östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern und Rügen für die dortigen Städte ihre auf besondern Bestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuern Verwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungen dieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von der Städteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Eine besondere Städteordnung ist 25. März 1867 für Frankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dort aus den von der S. präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14. April 1869 überweist die Verwaltung einem aus Bürgermeister und „Ratsverwandten“ bestehenden Magistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover (Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebenso wie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialisch organisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern (Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen (revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), in Braunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe und Schaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht die Städteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung, ebenso in Mecklenburg.

Neben dem bisher erörterten System findet sich aber in Deutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich dem Einfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dies kennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen. Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte der S. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem oder mehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung ist Sache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in der Rheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in der bayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und in den reußischen und schwarzburgischen Fürstentümern vertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes System gilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier ist die Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sie nähert sich aber mehr der städtischen als der ländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand der Gemeinde noch einen Gemeinderat für die Verwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung der Bürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. In Elsaß-Lothringen besteht das französische System, doch ist seit 1887 die Änderung getroffen, daß der Bürgermeister und die Beigeordneten nicht

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 15. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b15_s0214.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2024)