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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16

sich auch nachher neben jener. Die Volkslieder gehen aus dem Teil des Volkes hervor, den wir als die ungebildete Masse jenem entgegensetzen, in welchem aber die nationale Eigentümlichkeit sich am schärfsten erhält, so daß aus den Volksliedern der Charakter der Völker, denen sie angehören, in großer Wahrheit und Bestimmtheit entgegentritt. Die Einfachheit der rhythmischen und metrischen Formen ergibt sich aus dem Ursprung des Volksliedes, nicht weniger auch die Einfachheit des Ausdrucks und die frische, kräftige Natürlichkeit. Die Natur des Volksliedes bringt es mit sich, daß sich meist weder der Verfasser noch die Zeit der Entstehung ermitteln läßt; auch findet sich ein V. höchst selten in seiner ältesten Gestalt vor, weil sich Text und Weise meist nur durch mündliche Überlieferung erhalten haben, daher wir auch oft ein und dasselbe Lied in sehr verschiedener Gestalt wiederfinden. Nicht zu verwechseln ist übrigens die wahre Volkspoesie mit jener Poesie des Volkes, die wir gewöhnlich mit dem Namen Gassenhauer bezeichnen. Letztere ist zwar ebenfalls ein freies Erzeugnis des Volkes, aber nicht aus dem Gefühl, sondern aus dem Verstand hervorgegangen und nur von vorübergehendem Interesse. Häufig aber schließt ein echtes V. mit angehängten, nachgedichteten Versen, die es zum Gassenhauer machen und sich eine Zeitlang erhalten; namentlich sind es historische Lieder, die den Übergang von der einen zur andern Gattung bilden, besonders aus späterer Zeit. Wiewohl ohne poetischen Wert, sind sie doch für die Erforschung der Geschichte und besonders der Sittengeschichte einer Nation von hoher Bedeutung.

Die Germanen waren schon in den ältesten Zeiten ein sanglustiges und liederreiches Volk. Den Stoff ihrer Lieder nahmen sie aus der Götter- und Heldensage, aus der Tiersage, wozu noch Rätsel, neckende Wechsellieder etc. kamen. Die Völkerwanderung verschlang wohl die meisten dieser alten Lieder; dagegen lieferte sie einen gewaltigen neuen Sagenstoff, in welchem zugleich die Mehrzahl der Überreste älterer Sagen aufging. So ging im 6.–8. Jahrh. wieder eine bedeutende Anzahl allitterierender epischer Volkslieder aus der deutschen Heldensage und der Tiersage hervor; weitern Stoff bot die Zeitgeschichte; ausdrücklich erwähnt werden Spottlieder. Erhalten ist von der Volksdichtung dieses Zeitraums ein Bruchstück, das „Hildebrandslied“. Im 9. Jahrh. fanden eine Verengerung des Gebiets der Volkspoesie und eine Änderung ihrer Form statt. Schon von Anfang an hatte die christliche Kirche gegen diese Lieder wegen ihres heidnischen und weltlichen Ursprungs und Inhalts geeifert, auch bereits Versuche gemacht, geistlichen Inhalt in althergebrachte Form zu gießen. Im 9. Jahrh. trat sie dem V. aber mit eignen Schöpfungen, mit einer Kunstpoesie entgegen, der sich nun auch die Höfe und der Adel zuwendeten, so daß die Volksdichtung denjenigen Klassen überlassen blieb, die einer gelehrten Bildung entbehrten. Mehrere Jahrhunderte hindurch werden nun deutsche Volkslieder der Aufzeichnung für unwert erachtet, obwohl die Kunstpoesie selbst das sprechendste Zeugnis gibt, daß die Volkspoesie in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. eine ganz besondere Schöpferkraft entwickelt und auch ferner ein frisches Leben bewahrt hat. Die hohe formelle Vollendung, zu der sich die höfische Kunstdichtung bald erhob, wirkte ihrerseits veredelnd auf die Volksdichtung zurück, wie sich dies in den bedeutendsten Schöpfungen der mittelhochdeutschen Volkspoesie, den um 1200 entstandenen Dichtungen des Volksliedes, wie in dem „Nibelungenlied“, der „Gudrun“ und dem „Alphart“, zeigt. Später eignete sich das Volk besonders solche Sagen an, welche dem wundersüchtigen Geschmack der Zeit oder der durch die höfische Kunst eingebürgerten Liebesromantik zusagten, wie z. B. „Albertus Magnus“, „Der Tannhäuser“, „Der getreue Eckart“, „Heinrich der Löwe“ etc. Die gesellschaftlichen und religiösen Zustände, welche schwer auf dem Volk lasteten, förderten wohl Satiren und Spottverse, aber nicht epische Volkslieder, und zudem that die Buchdruckerkunst dem epischen Gesang insofern Eintrag, als sie ausführlichere prosaische Erzählung und Besprechung historischer Ereignisse und Zustände begünstigte. So kommt es, daß in dieser Periode namentlich die an historische Begebenheiten und Personen sich anlehnenden Balladen und Romanzen sowohl an Anzahl als an Verbreitung und Wert zurückstehen. Nur an den Grenzen des Reichs, unter den Freiheitskämpfen der Dithmarschen und der Schweizer, erwachten kräftige und echt volksmäßige historische Lieder. Desto voller und reicher erblühte dagegen die lyrische Volkspoesie. Schon im 14. Jahrh. gedenkt die „Limburger Chronik“ zahlreicher Lieder dieser Gattung, die sich ziemlich eng an die Weise des Minnegesangs anschließen. Bald aber entfaltete die Volkslyrik sich freier und weiter, und alles, was das menschliche Herz bewegt, zog sie in ihren Kreis. Das Empfinden dieser Volkssänger, Handwerksgesellen, fahrenden Schüler und Schildknechte, Hirten, Jäger und Ackerleute, reicht jedoch tiefer, ihr Denken weiter als die Kunst ihrer Rede, und die Knappheit, Lückenhaftigkeit und der springende Gang ihrer Lieder sind zum Teil eine Wirkung ihrer Unbeholfenheit, die namentlich in der ungeschickten Handhabung ihrer Vers- und Strophenformen zu Tage tritt, während das alte V. sich gerade durch die feinste und strengste Metrik auszeichnete. Eine ziemliche Anzahl von Volksliedern dieser Periode wurde bereits im 14. und 15. Jahrh. niedergeschrieben und noch weit mehr gegen Ende des 15. und im Anfang des 16. Jahrh. Schon in diesem und noch mehr im 17. Jahrh. verfällt das V. infolge eindringender Roheit und Gemeinheit in immer tiefere Verderbnis. Was noch im 17. Jahrh. an neuen Volksliedern hinzutritt (z. B. während des Dreißigjährigen Kriegs), ist größtenteils ungeschlacht oder gar nur platte Reimerei. Bessere Lieder aus dieser Zeit oder gar aus dem 18. Jahrh., wie „Prinz Eugenius, der edle Ritter“ (1717), gehören zu den seltenen Ausnahmen. Doch eben als das V. abzusterben begann, trat eine neue Kunstlyrik vermittelnd ein, und zwar diesmal durch das Medium der Musik. Bereits gegen die Mitte des 16. Jahrh. bildeten sich Gesellschaften, die sich reihum bei den einzelnen Mitgliedern versammelten und nach künstlichen, von den Niederlanden, Venedig etc. nach Deutschland gekommenen, mehrstimmig gesetzten Melodien Lieder sangen, und so entstanden die sogen. Gesellschaftslieder, lyrische Kunstdichtungen des verschiedensten Inhalts, die sich immer weiter von den Volksliedern entfernten und zur völligen Verdrängung derselben aus den gebildeten Kreisen wesentlich beitrugen. Eine zweckmäßige Auswahl derselben bietet Hoffmanns von Fallersleben „Die deutschen Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts“ (Leipz. 1844). Der heutige Volksgesang hat eine lebendige Quelle nur noch in den Alpen, wo Burschen und Mädchen bei ihren Tänzen und Spielen ihre kleinen „Schnaderhüpfeln“ zu selbsterfundenen oder vorhandenen Melodien singen. Nachdem Percy durch die Herausgabe altenglischer Volkslieder („Reliquies of ancient poetry“, 1765) die

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b16_s0266.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2022)