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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

finden sich Blatt, Blütentute und Fruchtkolben in großer Natürlichkeit dargestellt, und die Blüten der Schwertlilie (Iris germanica) und der weißen Lilie (Lilium candidum) zieren als heilige Blumen die Ornamente des gotischen Baues. Die Eiche, welche mit Blättern und Früchten ungemein naturalistisch schon im römischen O. auftritt, bleibt in der Gotik eins der beliebtesten Ornamentenmotive. Das gegliederte, leicht gewellte Blatt gestattete dem Künstler die mannigfachste Behandlung als schmückendes und füllendes Element in Ornamententeilen als Rosette, als Eckblatt an Säulen und als Knollenblatt in Gestalt von Krabben auf den Kanten der Giebel und an den Kanten der Kirchen- und Domtürme. In letzterer Eigenschaft sind sie oft recht geschmacklos stilisiert; langgestreckt, die scharfgeschnittenen Blattlappen nach unten gebogen, machen sie auf den Beschauer den Eindruck von häßlichen kriechenden Raupen. Ungemein nüchtern, bandförmig in die Länge gezerrt, begegnen sie uns auch in den Rankenzügen der spätgotischen Ornamentik; sie gleichen in ihrer Form den ebenso unglücklich stilisierten Distelblättern. Die soeben genannte Ornamentenflora wiederholt sich auch an allem Schnitzwerk in den Kirchen, Domen und Klöstern an Altären, Kirchenstühlen, Taufsteinen, Heiligen-, Altar- und Sakramentenschreinen und in den Patrizierhäusern an dem Hausgerät, den Tischen, Stühlen, Truhen, Rahmen, Ofenkacheln und bekundet oft eine tiefinnige Auffassung, einen feinen Geschmack und hohes technisches Geschick. Zwischen der anmutigen, künstlerisch vollendeten Ornamentenflora, an den Schlußsteinen der Bogengurte, an Giebelfeldern, Säulenkapitälen und an den Wasserspeiern spukt eine merkwürdig phantastische Tierwelt herum; Wölfe, Füchse, Hunde, Löwen, Drachen, Geier mit langgestreckten dürren Leibern und greulichen Köpfen scheinen in grimmer Wut aus den Wänden oder von den Dächern zu springen und beleidigen in dieser unnatürlichen, häßlichen Darstellung unser ästhetisches Gefühl ebenso sehr, wie die mancherlei fratzenhaften Gesichter von Mönchen, Nonnen, die der Künstler in übermütiger oder satirischer Aufwallung als Geißel und Spott für seine Zeitgenossen aus dem Stein herausmeißelte.

In den Miniaturen aus der Zeit des Mittelalters erblüht eine wunderbare Pflanzenwelt, so greifbar plastisch, so frisch, wie die Natur sie nur bildet; sie verrät auch in dem Unscheinbarsten den emsigen Fleiß, eine gewisse liebevolle Hingabe der Künstler (teils Mönche, teils Laien) an ihr Werk, welche die heiligen Bücher und die der Profanlitteratur mit gemalten Anfangsbuchstaben, Initialen und die Ränder von ausgemalten Bildseiten derselben mit zierlichen Arabesken, Ranken und Schnörkeln schmückten. Den irischen Miniaturen verdankt das Initialenornament den originellen Charakter, den es während des 8. und 9. Jahrhunderts ausschließlich behauptet. Dieses künstliche Gewirr von Linien, Schnörkeln, Riemen und Bändern, das entweder die Initiale durchflicht oder dieselbe in ihren Grundzügen vollständig entstehen läßt, ist durchaus geschmacklos und unschön (Taf. II, Fig. 36 und 37). Häufig werden phantastische Tiergestalten, langgeschwänzte greuliche Drachen, Fische, Schlangen etc. gezwungen, sich durch abschreckende widernatürliche Dehnung, Reckung und Verzerrung ihres Körpers oder einzelner Glieder der Form der Initiale anzupassen oder einzuschmiegen. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte verfeinert sich das roh behandelte O. mehr und mehr. Band- und Riemenwerk wird durch leichtes, schwunghaftes und durchsichtiges Laub- und Rankenwerk verdrängt, das entweder in langen, kühnen Linien und Schnörkeln von den Enden der Initialen ausstrahlt oder sich in denselben oder um dieselben herum konzentriert. Im letztern Falle endet die auslaufende Ranke mit dem federartig stilisierten Gebilde der Schwertlilie oder mit einem Kleeblatt. Hin und wieder sind auch große melonenartige Früchte, Granatäpfel etc. benutzt, um die Räume zwischen den Elementen der Initialen zu füllen oder um einen Abschluß des Rankenwerkes herbeizuführen. Vom 13. Jahrh. an wird das Initialen- und Miniaturenornament naturalistischer und formenreicher (Taf. II, Fig. 43–46, Taf. III, Fig. 4, 7, 8, 10, 15, 17–19, 22, 29, 33); Akanthus (Taf. III, Fig. 4, 10, 17 u. 18), Eichen-, Wein- und Epheuranken bilden seine besondere Zierde. Als Schlußblumen der Ranken erscheinen gewöhnlich Vergißmeinnicht, Rosenknospen, die Blüten des bittersüßen Nachtschattens (Solanum Dulcamara) und des im Mittelalter sehr beliebten Borretsch (Borago officinalis, Taf. III, Fig. 33). Ferner sieht man als Schlußgebilde die Früchte der Einbeere (Paris quadrifolia), des Mohns, die Früchte der Igelskolbe (Sparganium ramosum), der Roßkastanie, und von den einheimischen Pflanzen, welche man zur Ausschmückung oder Füllung der Initialen oder der Blattranken den Miniaturen einlegte, mögen genannt werden: Rose, Erdbeere, Distel (streng stilisiert), Schwarzkümmel (Nigella arvensis), Lilie, Narzisse, dreifarbiges Veilchen und der schon genannte blaue Boretsch. Wo das Miniaturen- und Initialenornament mit seinen vielfarbigen Reflexen und geistreichen Kombinationen rein auftritt, atmet es künstlerisches Selbstgenügen, Harmonie und Ruhe, sobald es sich aber mit Tiergebilden höherer Ordnungen und Menschengebilden vereinigt, offenbart es im scharfen Kontrast die mannigfachsten Gegensätze, an denen das Mittelalter so reich ist. Drachen, rätselhafte Ungetüme, Seejungfern, Kentauren, Bären, Elefanten, Hunde etc. ragen in die Blumenwelt hinein; aus einer herrlich gemalten Passionsblume springt ein Affe uns entgegen, aus dem Kelche der Lilie taucht das weinselige Gesicht eines Bruder Kellermeisters auf, und der Teufel benagt in Gestalt eines Schweines die Ranken des Initialenornaments. Komisch wirkt es, wenn sich inmitten des zartesten Blumenflors zwei greulich gestaltete Ziegenböcke gegenseitig belecken, Mönche und Nonnen sich in den Ranken schaukeln und Narren dazu tanzend die Schellenkappe schütteln. Die Miniaturen- und Initialenflora wiederholt sich auch überall in den Erzeugnissen mittelalterlichen Kunstfleißes, namentlich in den Ornamenten der Weberei, Stickerei, Glasmalerei, Töpferei und dem Schmiedehandwerk. In dem O. der buntfarbigen Teppiche, Decken, Bordüren, Tragriemen, Gürtel, Wehrgehänge etc. spielen Granatäpfel, Rosen, Lilien, Sternblumen, Weinreben, Lorbeer- und Eichenblätter eine wichtige Rolle, und in den Messingbeschlägen der Bücher und den Werken der Schmiedekunst, an Ziergittern, Thoren und Thüren enden die Zierstäbe mit Disteln, Lilien, Sternblumen, Kreuzblumen etc. oder bilden Ranken und Arabesken, in denen man sofort den Akanthus und die Blätter der Stechpalme (Ilex aquifolia) als Motiv erkennt.

Die Zeit der Renaissance, deren belebender Hauch in der Mitte des 15. Jahrh. von dem klassischen Boden Italiens ausging und ihren Einfluß auf alle Nationen gleichmäßig ausdehnte, indem sie den wuchernden Überfluß in der Architektur und

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0704.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2021)